04.06.2018

Neu gegründete Jüdische Gemeinde Gießen feiert 40-jähriges Bestehen

Der Hermann-Levi-Saal im Rathaus platzte buchstäblich aus allen Nähten. Immer mehr Stühle wurden herangeschleppt und trotzdem standen ganz hinten im Saal noch Menschen. "Wow!", war dann auch das erste Wort, das Dow Aviv, der Vorsitzende der Jüdischen Gemeinde Gießen, ins Mikrofon sagte.

Sichtlich überwältigt vom Andrang zum 40-jährigen Jubiläum seit Neugründung der Gemeinde, zu dem auch zahlreiche Vertreter aus Politik und den christlichen Kirchen gekommen waren. Neben all der positiven Resonanz schwang aber auch Vorsicht mit. Auf dem Rathausvorplatz hatten sich zwei Polizisten positioniert. Neuaufkommender Antisemitismus war auch in den Festbeiträgen immer wieder Thema.

Aviv erinnerte sich, wie er 1978 - gerade in Gießen angekommen - "von einer sympathischen Frau im Akademischen Auslandamt" erfuhr, dass vor Kurzem eine jüdische Gemeinde gegründet worden war: "Das war für mich wie ein Erdbeben, Stufe 12 auf der Richterskala" Doch aufgeregt und ängstlich sei er nicht wegen der neuen Umgebung oder fehlender Sprachkenntnisse gewesen: "Es war mein Gepäck." Damit meinte Aviv die "Bilder voller Emotionen", die er im Kopf hatte - "Fotos von Konzen-trationslagern und Gesichter von Überlebenden inklusive der eigenen Familie." Immer schwang die Aussage mit: "Deutschland, das Naziland." Die von Prof. Jakob und Dr. Thea Altaras gegründete jüdische Gemeinde sei da wie ein "Gegenpol" gewesen. "Wir sind nur eine Mini-Minderheit", betonte Aviv angesichts der 200 000 Juden, die heute in Deutschland leben. Die jüdische Gemeinde Gießen, die mit 26 Mitgliedern gestartet war, hat momentan 370 Angehörige. Von "Stunde Null" an dabei ist Dr. Gabriel Nick, den Aviv besonders ehrte. Wichtig für die Integration sei freilich die breite Zivilgesellschaft, denn "je mehr wir voneinander wissen und lernen, desto toleranter, freundlicher und friedvoller können wir miteinander umgehen." Der Vorsitzende der jüdischen Gemeinde thematisierte auch den Umgang mit dem Holocaust im Schulunterricht. Heutzutage seien Lehrer mit heterogenen Schülerschaften konfrontiert, die aus religiösen Gründen teils keine Verbindung zum Holocaust hätten. Es sei wichtig, die Juden nicht nur als Opfer darzustellen und sich nicht auf den Zeitraum der NS-Diktatur zu beschränken.

Hierauf bezog sich auch Prof. Sascha Feuchert als Leiter der Arbeitsstelle Holocaustliteratur an der Justus-Liebig-Universität in seinem Gastvortrag. "Massive Angriffe von rechts" attackierten "in besorgniserregendem Ausmaß" gerade unsere Erinnerungskultur, vor allem in Bezug auf den Umgang mit der Shoa, "dem größten Menschheitsverbrechen." Doch wie kann diesen Angriffen begegnet werden? Feuchert beobachtet, dass das Interesse am Thema unter Lehramtsstudierenden in den letzten Jahren nochmals deutlich zugenommen hat. Das führt er darauf zurück, dass "diese Studierenden Mitglieder der vielleicht letzten Generation sind, die in der Erinnerung an die Shoa von Begegnungen mit Zeitzeugen geprägt sind". Um aufkeimendem Antisemitismus entgegenzuwirken, müsse man in die Ausbildung der zukünftigen Lehrer investieren. Denn die stünden nicht nur wegen des Wegfalls der Zeitzeugen-Generation vor einer Herausforderung, die seien auch mit Schülergruppen konfrontiert "zu deren Geschichte der Holocaust nicht gehört."

"Zwang erzeugt Abwehr"

Wichtig sei vor allem, dass schon im Studium die Gelegenheit zur Ausbildung von "Gedenkstätten-Teamern" geschaffen werde. Leider gebe es hierfür kaum Förderungen, obwohl etwa über den Etat der Landeszentrale für politische Bildung "leicht für Abhilfe" gesorgt werden könne. Feuchert monierte, dass Lehrern im Berufsalltag die Zeit fehle, Fahrten zu Gedenkstätten vor- und nachzubereiten. So bringe es wenig, dass Schüler "in die Gedenkstätte Buchenwald gekarrt und dort drei Stunden herumgeführt werden", sie benötigten dringend Zeit, um sich einzulassen. Verpflichtende Besuche bezeichnete der Experte als ebenso kontraproduktiv, denn "Zwang erzeugt immer Abwehr." "In der Zeit nach den Zeitzeugen werden diese Fahrten immer wichtiger", so der Wissenschaftler, der an die anwesenden Politiker appellierte: "Bitte streichen Sie diese Mittel nicht, stocken Sie sie auf!"

Grußworte sprachen unter anderem der Propst der evangelischen Kirche Hessen-Nassau, Matthias Schmidt, der Oberbürgermeister von Wetzlar, Manfred Wagner und Dr. Jakob Gutmark als Vorsitzender des Landesverbandes Jüdische Gemeinden in Hessen. Wolfgang Greilich erinnerte als Vizepräsident des hessischen Landtages daran, dass das jüdische Leben in Gießen bis ins 14. Jahrhundert zurückreicht, "auch wenn wir heute über 40 Jahre reden". Anerkennung und Respekt gelte den jüdischen Bürgern, die den Mut zur Neugründung aufbrachten. Das Zusammenstehen der Zivilgesellschaft müsse sich auch im Eintreten gegen antisemitische Handlungen widerspiegeln, denn Jubiläen und Gedenktage dürften nicht nur "Symbolpolitik" sein. Gravierende antisemitische Vorfälle habe es seit Neugründung der Gemeinde in Gießen zwar nicht gegeben, doch auch kleinere Ereignisse müssten eine Mahnung sein: "Währet den Anfängen!" "Wie gerne würde ich den 600. Geburtstag der jüdischen Gemeinde begehen", sagte auch Oberbürgermeisterin Dietlind Grabe-Bolz. Stattdessen feiere eine Gemeinde Jubiläum, "die nicht mehr die ist, die sie einmal war." Vor allem "in Zeiten, in denen Antisemitismus wieder sichtbarer wird", sei es wichtig, füreinander einzustehen. "Das jüdische Leben ist ein Teil von uns und Selbstverständnis eines pluralen Lebens."

Heute ist der

18. Adar II 5784 - 28. März 2024