24.04.2020

Jüdischer Neustart nach dem Grauen

Bad Nauheim

Mit der Einnahme Bad Nauheims durch die amerikanische Armee am 29. März 1945 neigte sich das dunkelste Kapitel der Geschichte ihrem Ende entgegen. Kurz darauf war Nazi-Deutschland vollends besiegt. In Bad Nauheim begann wieder jüdisches Leben. Vor 75 Jahren wurde hier der erste jüdische Gottesdienst in einer Synagoge auf deutschem Boden nach dem Holocaust gefeiert.

Die jüdische Gemeinde Bad Nauheim existiert schon seit dem 13. Jahrhundert. Aufgrund der stets zunehmenden Anzahl an Kurgästen wurde Anfang des 20. Jahrhunderts geplant, eine neue Synagoge zu bauen. Diese wurde 1929 eingeweiht. Das Nazi-Regime hatte zum Ziel, alles jüdisches Leben weltweit auszulöschen - vor allem in Deutschland. Dazu sollten die Synagogen in der Pogromnacht vom 9. November 1938 in ganz Deutschland vernichtet werden. Die Synagoge in Bad Nauheim brannte nicht ab, weil es wohl einige Männer gab, die das Feuer noch rechtzeitig löschen konnten. Während des Krieges wurde die Synagoge als Depot zweckentfremdet.

Nachdem Bad Nauheim am 29. März 1945 von der amerikanischen Armee eingenommen und ein neuer Bürgermeister berufen worden war, beschloss der Stadtrat die Räumung und die Reinigung der Synagoge. Die jüdischen GIs staunten, eine so schöne Synagoge in Bad Nauheim vorzufinden. Die Torarollen wurden von Bad Nauheimern gerettet und aufbewahrt. Am 27. April 1945 fand erstmals seit 1938 wieder ein Gottesdienst statt. Die Einweihung erfolgte durch Ass’t Corps Chaplain Samuel Binder. Nach Angaben der hiesigen Gemeinde war es der erste jüdische Gottesdienst in einer Synagoge auf deutschem Boden nach der Shoa.

Einziger Ort mitintakter Synagoge

Im Jahr 1945 hielten sich etwa 1000 Juden in Bad Nauheim auf - hauptsächlich amerikanische Soldaten, Displaced Persons (Zivilpersonen, die sich kriegsbedingt außerhalb ihres Heimatstaates aufhielten) sowie KZ-Überlebende. Viele entschieden sich für Bad Nauheim, weil dies der einzige Ort in der Region war, der über eine intakte Synagoge verfügte. Die Stadtverwaltung bemühte sich sehr darum, jüdisches Leben in der Stadt wieder möglich zu machen.

Der Gemeindevorstand der jüdischen Gemeinde Bad Nauheim wollte zusammen mit der Christlich-Jüdischen Gesellschaft Wetterau und Bürgermeister Klaus Kreß das am Montag anstehende 75-jährige Jubiläum in besonderer Weise zelebrieren. "Es wäre an der Zeit, sich bei der amerikanischen Armee und der Stadtverwaltung für ihren Anteil an der Wiedereinweihung der Synagoge zu bedanken. Leider musste der Termin wegen Corona verschoben werden", macht Manfred de Vries, Vorsitzender der jüdischen Gemeinde Bad Nauheim und Usinger Land, deutlich.

Dank an dieUS-Soldaten

Es geht um Erinnerung an damals. Bad Nauheim wurde zum Zentrum jüdischen Lebens in der hiesigen Region nach der Shoa. Viele Juden weltweit waren der Meinung, nach dem Holocaust sollten keine Juden auf deutschem Boden leben. Sie sollten schnellstmöglich auswandern. Die Ermordung von sechs Millionen Juden im Namen Deutschlands sollte dazu führen, Deutschland für immer judenfrei zu halten.

Einige wenige KZ-Überlebende und jüdische Displaced Persons sahen genau das Gegenteil als richtig an: Wenn keine Juden in Deutschland mehr den Finger auf die wahren Täter richten könnten, hätte Hitler im Nachhinein recht bekommen.

Genau das war auch die Rechtfertigung der neuen jüdischen Gemeinde in Bad Nauheim. Sie nahm sich das Recht, die jüdische Orthodoxie hier zu etablieren. Die Gemeinde hatte das Glück, über eine Synagoge zu verfügen. Zusätzlich gab es schon früh ein jüdisches Hotel, sodass jedes Jahr viele religiöse Kurgäste kamen und im Sommer täglich ein Gottesdienst stattfand.

Bad Nauheim hatte weltweit einen Ruf der Orthodoxie, der über jeden Zweifel erhaben war. "Auch das haben wir zu einem großen Teil der amerikanischen Armee zu verdanken - und wir bedanken und verneigen uns vor diesen jüdischen GIs. Aber auch der Bürgermeister und Bürger der Stadt, die diese Gemeinde mit offenen Armen im Zentrum der Gesellschaft aufnahmen und der Gemeinde jegliche Hilfe angedeihen ließen", sagt de Vries.

2012 konnte die Synagoge aufgrund einer gründlichen Sanierung mithilfe der Stadtverwaltung im neuen Glanz und mit den ursprünglichen Farben erstrahlen.

"Die Zeit steht nie still, und unsere kleine Gemeinde in der Wetterau hat sich stark gewandelt", erläutert der Vorsitzende. Ende der 90er Jahre waren die Holocaust-Überlebenden schon betagt, und nur sehr wenige konnten noch die Fahrt nach Bad Nauheim im Sommer antreten. Andererseits kamen in dieser Zeit viele jüdische Familien aus den GUS- Staaten nach Bad Nauheim. Diese Menschen durften ihre Religion in der Sowjetunion nicht leben und kamen ohne jüdische Tradition, die für den Erhalt des Judentums so wichtig ist. Sie wurden von der Gemeinde mit offenen Armen aufgenommen, und sie dankten es, indem sie dem Judentum eine neue Überlebenschance gaben.

Manfred de Vries: "Somit haben wir heute eine kleine aber rege jüdische Gemeinde, etwas weniger orthodox, aber genauso herzlich und den jüdischen Gesetzen und Traditionen verbunden. Wir wollen hoffen und beten, dass unsere Gemeinde wächst und gedeiht, damit wir die Zukunft gemeinsam mit der bunten Gemeinschaft in der Wetterau und im Usinger Land gestalten können."

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