10.11.2021

Erinnern an Pogromnacht in Gießen: »Ein schreckliches Déjà-vu«

Gießen

Selten war das Erinnern an die November-Pogrome der Nazis so eindrucksvoll wie am heutigen Dienstagabend. Dabei ging es nicht nur um 1938, sondern auch um Antisemitismus in der Gegenwart.

Selten war das Erinnern an die November-Pogrome der Nazis so eindrucksvoll wie am heutigen Dienstagabend. Dabei ging es nicht nur um 1938, sondern auch um Antisemitismus in der Gegenwart.

Nicht wenigen der knapp 200 Menschen, die sich am frühen Dienstagabend (9. November) um den Gedenkstein vor der Kongresshalle verteilt hatten, wird es eiskalt den Rücken runtergelaufen sein, als die Orte des Grauens im Sprechgesang des jüdischen Totengebets, vorgetragen von Rabbiner Shimon Grossberg, das Brummen der Stadtbusse übertönten: Auschwitz, Majdanek, Treblinka. Danach schritten Regierungspräsident Dr. Christoph Ullrich, Oberbürgermeisterin Dietlind Grabe-Bolz und Stadtverordnetenvorsteher Joachim Grußdorf zur Kranzniederlegung.

Eine Stunde dauerte die Veranstaltung zum Gedenken an die Pogrome gegen die jüdische Bevölkerung am 9. und 10. November 1938. Bei aller Betroffenheit freute sich Cornelius Mann von der Gesellschaft für Christlich-Jüdische-Zusammenarbeit, dass sich diesmal ein »breites Bündnis« aus Stadt, Kirchen, Jüdischer Gemeinde, Land Hessen, Gewerkschaften, der Deutsch-Israelischen Gesellschaft und universitären Gruppen am Gedenkstein für die größte Gießener Synagoge versammelt hatte. Ein Schulterschluss, der angesichts der Häufung von antisemitischen Straftaten nach Überzeugung aller Redner bitter nötig ist. »Jüdische Menschen haben Sorge, wohin sich unsere Gesellschaft entwickelt«, sagte Mann.

Auch Oberbürgermeisterin Dietlind Grabe-Bolz ging in ihrer letzten Rede bei einem Pogromnacht-Gedenken auf die aktuellen Ereignisse ein. Judenhass gebe es in allen gesellschaftlichen Milieus, »offen und verdeckt«. Antisemitismus treffe nicht nur eine Minderheit, er sei ein »Angriff auf unsere grundlegenden Werte«, sagte Grabe-Bolz.

Kritik an Demos gegen Israel

RP Christoph Ullrich, der wachsende Intoleranz und Aggressivität in den Debatten beklagte, zitierte seinen von einem Neonazi erschossenen Ex-Kollegen Walter Lübcke: »Da muss man für Werte eintreten, und wer diese Werte nicht vertritt, der kann jederzeit dieses Land verlassen.«

Einblicke in die über 700 Jahre alte Geschichte der Gießener Juden gewährte Torben Stich vom Verein Netzwerk für politische Bildung, Kultur und Kommunikation. Marina Frankfurt, Vorsitzende der Jüdischen Gemeinde, erinnerte an die »Blütezeit« des deutschen Judentums im 19. Jahrhundert. Aktuell indes erlebten die Gemeinden ein »schreckliches Déjà-vu auf den Straßen«. Für die Genehmigung antisemitischer Demonstrationen, die im Sommer unter dem Deckmantel von Israel-Kritik stattgefunden hatten, fehle ihr jedes Verständnis, sagte Frankfurt.

Inta Serebro sang zwei Lieder auf Hebräisch und Jiddisch, Gebete sprachen der evangelische Dekan André Witte-Karp und der katholische Kaplan Simon Krost. Krankheitsbedingt ausfallen musste ein Beitrag der IG-Metall-Jugend, die sich mit Zwangsarbeit im NS-Regime befasst hatte. Für DGB-Geschäftsführer Matthias Körner sind derartige Aktivitäten junger Leute ein wichtiger Beitrag, damit die Erinnerung an die Menschheitsverbrechen der Nazis auch nach dem Wegfall der Erlebnisgeneration »niemals erlischt«.

Nach der Kranzniederlegung wechselten einige Besucher die Straßenseite und schlossen sich dem Mahngang an, zu dem neben dem DGB einige linke Parteien und Gruppen aufgerufen hatten. Auch hier waren es um die 200 Teilnehmer. Vor Beginn warnte Henning Mächerle (DKP) vor einer »Historisierung des Faschismus«, denn der sei eine allgegenwärtige Gefahr.

Angriffe am hellichten Tag

In Gießen fanden die Übergriffe auf die jüdische Bevölkerung vor 83 Jahren nicht nachts, sondern am Vormittag des 10. November 1938 statt. Die Gotteshäuser der jüdischen Gemeinden am Hindenburgwall und in der Steinstraße brannten. In Wieseck wurde der Gebetsraum der dortigen Gemeinde in der heutigen Karl-Benner-Straße gestürmt, zerstört und geplündert. In der Innenstadt wurden die noch vorhandenen jüdischen Läden sowie ein Bankhaus in der Neuen Bäue vom Mob attackiert. Zudem kam es zu gewalttätigen Übergriffen und Verschleppungen in Konzentrationslager.

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