11.03.2022

Jüdische Gemeinde Gießen will Geflüchteten aus Ukraine helfen

Gießen

Immer mehr Menschen fliehen vor dem Krieg in der Ukraine. Die jüdische Gemeinde in Gießen will den Geflüchteten, die hier ankommen, helfen.

Die jüdische Gemeinde in Gießen ist in der Vergangenheit keine gewesen, die offensiv die Öffentlichkeit gesucht hat. Auch viele ihrer Mitglieder sind zurückhaltend, was das sichtbare Ausleben ihres Glaubens angeht. Doch aktuell gibt es keinen Alltag, kein »normalerweise«. Deshalb ist es zwar bemerkenswert, aber es passt in diese Zeit, dass der Vorstand der jüdischen Gemeinde am Montag zu einem Pressegespräch geladen hat. Dort haben Vorstandsmitglieder über die geplanten Hilfen für Geflüchtete aus der Ukraine - mit oder ohne jüdischen Glaubens - informiert. Die Gemeinde sieht sich in der Verantwortung: Denn fast alle ihrer Mitglieder sind als Kontingentflüchtlinge Ende der 90er Jahre aus der ehemaligen Sowjetunion nach Deutschland gekommen; zwischen 70 und 80 Prozent stammen aus der Ukraine. Bundesweit sind es 45 Prozent.

Bei der Hilfe für die Geflüchteten wolle man »vorne weg zu gehen«, betont Vorstandsmitglied Simon Beckmann. Der Vizevorsitzende der Gemeinde, Dow Aviv, sagt: »Wie jeder andere Bürger auch sind wir betroffen vom brutalen Vorgehen Putins in der Ukraine.« Klar ist auch: Viele Mitglieder der jüdischen Gemeinde sind in diesem Zusammenhang keine gänzlich unbeteiligten Bürger. Denn sie haben in der Ukraine und in Russland Familie, Verwandte und Freunde, sagt die Vorsitzende, Marina Frankfurt, die selbst russische Wurzeln hat.

Geflüchtete aus der Ukraine: Zahl steigt von Tag zu Tag

Die Zahl der nach Deutschland kommenden Geflüchteten aus der Ukraine steigt von Tag zu Tag. Und weil viele Ukrainer jüdischen Glaubens familiäre Kontakte nach Deutschland haben, geht Beckmann davon aus, dass viele von ihnen auch in die Bundesrepublik wollen. Bundesweit rechne man mit 5000 bis 15 000 Geflüchteten jüdischen Glaubens. »Darauf wollen wir vorbereitet sein«, sagt Aviv.

Die jüdische Gemeinde will dann »Erste Hilfe« leisten. Als die ersten Geflüchteten in die Erstaufnahmeeinrichtung kamen, hätten die Gemeindemitglieder Kontakt zum Regierungspräsidium aufgenommen, um unbürokratisch Hilfe leisten zu können. Man sei aber zusätzlich bereit, in einem nächsten Schritt bei der Integration der Geflüchteten zu helfen, sagt Aviv.

Beteiligen will sich die Gemeinde auch beim Sammeln von Spenden. Gebraucht würden keine Kleidungsstücke, sondern Isomatten, Schlafsäcke, Verbandsmaterial oder Hygieneartikel. Aus Sicherheitsgründen sollen Spenden nicht spontan bei der Gemeinde abgegeben werden. Aviv bittet um vorherige Kontaktaufnahme via Telefon oder E-Mail (siehe Kasten).

Ukraine-Krieg: Zu alt zur Flucht aus der Ukraine

Der Vorstand der jüdischen Gemeinde hat ein Konto eröffnet, über das spontan finanzielle Hilfe organisiert werden kann - auch für Verwandte von Gemeindemitgliedern, die in ihrer Heimat bleiben müssen oder wollen. Vorhanden sei aktuell ein Startkapital von 1000 Euro. 500 Euro hat die Gemeinde eingezahlt, weitere 5000 Euro die Gesellschaft für christlich-jüdische Zusammenarbeit Gießen-Wetzlar.

Auffangen will die Gemeinde auch die Mitglieder, die eine russische Rente beziehen. Durch die Sanktionen gegen Russland, erklärt Aviv, könnten sie darauf nicht zurückgreifen. Die Gefahr, in eine finanzielle Notlage zu geraten, sei groß. Die jüdischen Gemeinden führten in dieser Frage bereits Gespräche mit der Bundesregierung.

Den Vorstandsmitgliedern ist es wichtig zu betonen, dass sie mit ihrem Hilfsangebot nicht in Konkurrenz zu anderen Organisationen, Vereinen oder Ehrenamtlichen treten wollen. Die Gemeinde möchte sich vielmehr mit anderen vernetzen. »Die Solidarität ist riesig«, sagt Beckmann, »aber die Unterstützung muss organisiert werden.«

Geflüchtete aus der Ukraine: Psychosoziale Unterstützung

Die jüdische Gemeinde sieht sich gerade mit Blick auf die psychosoziale Unterstützung ihrer Mitglieder und der Geflüchteten in einer besonderen Rolle. Zum einen gelte es, die Mitglieder mit russischen Wurzeln aufzufangen, die nun Opfer von Diskriminierung würden, sagt Beckmann. Zum anderen stehe man in Kontakt mit der jüdischen Gemeinde in Kiew. Dort sei die Sorge groß, dass in Krisenzeiten der Hass auf Juden zunehme. Hinzu kommt: Viele, die selbst den Holocaust überlebt haben, seien mittlerweile zu alt und nicht mobil genug, um die Stadt zu verlassen. Sie müssten bleiben - und hoffen.

Wer mit der jüdischen Gemeinde in Kontakt treten will, meldet sich per E-Mail an info@jg-giessen.de oder per Telefon: 06 41/9 32 89 20. Spendenkonto: Jüdische Gemeinde Gießen, Stichwort: Ukraine Hilfe, IBAN: DE50 5139 0000 0006 1900 06, Volksbank Mittelhessen eG. (Kays Al-Khanak)

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