09.06.2022

Vertrautes in der Fremde: Wie die Offenbacher Rabbinerfamilie und Jüdische Gemeinde ukrainischen Flüchtlingen helfen

Offenbach

Einst war Deutschland das Land, aus dem Juden fliehen mussten und so manche fanden schließlich bei den Russen Schutz. Nun hat sich die Geschichte umgedreht: Vor dem Angriffskrieg der Russen fliehen Juden aus der Ukraine, um Schutz in Deutschland zu suchen.

Rund 3500 jüdische Kriegsflüchtlinge sind nach Angaben des Bundesinnenministeriums bisher in Deutschland angekommen. Viele von ihnen werden von den jüdischen Gemeinden versorgt und betreut. Auch in Offenbach. Hunderten Geflüchteten haben Rabbiner Mendel Gurewitz, seine Ehefrau Rivkah und weitere Gemeindemitglieder bereits geholfen. Seitdem ist in ihrem Alltag nichts mehr so, wie es vorher war.

Offenbach - Als der Krieg ausbrach, waren die beiden gerade in ihrer alten Heimat New York. „Dort erfuhren wir schon, dass viele Menschen auf der Flucht sind. Als wir zurückkamen, fuhren wir sofort in die Hotels, sprachen mit ihnen, ob sie Hilfe benötigen“, blickt die Rebbetzin zurück. „Dieser Schmerz in den Augen von Menschen, die alles verloren haben, deren Welt zusammengebrochen ist, das nimmt schon sehr mit“, sagt sie jetzt noch, mehr als drei Monate später. Doch Zeit, darüber nachzudenken, sich mit sich selbst zu beschäftigen, bleibt nicht. „Wenn wir nicht helfen, wer soll es dann tun? Da schaltet man den Kopf aus, muss stark sein.“

Viele Flüchtlinge blieben nur ein paar Tage in Offenbach, bevor sie in andere Städte oder gar nach Kanada weiterzogen. „Für sie wird Offenbach immer der Ort bleiben, an dem sie erste Zuflucht fanden und Menschen, die für sie da waren“, sagt Rabbi Gurewitz, der selbst fließend russisch spricht – ein riesiger Vorteil im Umgang mit den Ukrainern. Denn viele sind geblieben. Sie brauchen eine Perspektive, eine Zukunft für sich und ihre Familien. Die Synagoge, der Rabbi sind etwas Vertrautes, was sie von Zuhause kennen, womit sie sich identifizieren, was ihnen Trost und Sicherheit gibt in einer fremden Umgebung. Und ein Stück Hoffnung.

Zunächst einmal haben jüdische Geflüchtete dieselben Sorgen und Probleme wie alle anderen auch: Welche Behördengänge und Formalitäten sind zu erledigen? Wo bekommen sie medizinische Hilfe? In all diesen Dingen hilft ihnen die jüdische Gemeinde, konkret Vorstandsmitglied Nina Gavrilenko. Auch die seelsorgerischen Angebote wie der Thora-Unterricht auf Russisch und Deutsch werden sehr gut angenommen, Gebete und sonstige Aktivitäten sind gut besucht. Manche hätten, beobachtet Gurewitz, durch die Fluchterfahrungen ihren Glauben gestärkt oder gar neu entdeckt. Zwei erwachsene Männer hätten beschlossen, sich beschneiden zu lassen. „Die Besinnung auf Spiritualität ist für sie eine Art der Ausflucht aus dem Krieg.“

Ein spezielles Bedürfnis ist für die Gläubigen besonders wichtig: koschere Ernährung. Im Hotel können sie nicht selbst kochen – und koschere Speisen bekommt man nicht einfach so an jeder Ecke. Doch auf nicht-koschere Gerichte zurückzugreifen, ist für einen Juden, der ein Leben lang Wert auf diese Nahrung gelegt hat, undenkbar – selbst in einer Notsituation. „Es ist eine Frage der Würde“, erklärt Rivkah Gurewitz.

Deshalb kocht sie seit drei Monaten an sieben Tagen in der Woche koscheres Essen für die Geflüchteten, meist 30 bis 40 Menschen – in ihrer privaten Küche. Das Essen wird den Flüchtlingen geliefert, manchmal finden gemeinsame Mahlzeiten in der Gemeinde statt. Für eine solche Anzahl an Menschen zu kochen, nimmt sie als Mutter von zehn Kindern schulterzuckend hin: „Unser Tisch ist sowieso immer voll mit unserer großen Familie, dazu kommen häufig noch Gäste.“ Es gehe nicht darum, den Menschen koschere Steaks zuzubereiten, sondern einfache Dinge wie eine Suppe.

Dennoch kosten allein die Mahlzeiten viel Geld, auch die Kosten für die sonstige Versorgung schlagen zu Buche. „Mittlerweile sind wir im Minus“, sagt Yaakov Barasch, die rechte Hand von Rabbi Gurewitz. Zwar gebe es finanzielle Unterstützung für die jüdischen Gemeinden, doch diese sei nicht unbegrenzt. Vieles hat der Rabbiner aus eigener Tasche bezahlt. „Es wäre eine riesige Erleichterung, wenn wir eine Art kleines jüdisches Geflüchtetenhaus einrichten könnten“, sagt Barasch. „Mit Räumen, die zum Wohnen genutzt werden können, und am besten auch mit einer Küche dabei.“ Zwar stelle die Gemeinde seit einigen Wochen auch ihre Küche zur Verfügung, da sich für die Verpflegung des Gemeinde-Kindergartens eine andere Lösung gefunden habe, doch alles an einem Ort zu vereinen, sei die beste Lösung. „Für jede Möglichkeit, jeden Hinweis sind wir sehr dankbar.“

Zum Glück würden viele Menschen helfen. Der Arzt, der kostenlos behandelt. Der Hotelier, der Preisnachlass gibt, ebenso wie das Übersetzungsbüro. Anfangs seien viele (Sach-) Spenden aus der Bevölkerung gekommen, doch diese ließen mit der Zeit nach – eine Art Gewöhnungseffekt an den Krieg trete ein.

Doch es muss weitergehen. Irgendwie. Das Rabbiner-Paar berichtet vom berührenden Schicksalen wie den der 92-jährigen Holocaust-Überlebenden Rachel Entina, die nach einer fünftägigen Busreise aus Kiew in Offenbach ankam. „Als sie mich sah. fing sie sofort an, jiddisch mit mir zu sprechen, die Sprache ihrer Kindheit“, berichtet der Rabbiner. „Sie war völlig klar im Kopf, eine beeindruckende Persönlichkeit.“ Dann der Schock: Nach einer Woche starb sie. Sie hatte Corona, vermutlich hatte sie sich während der Flucht angesteckt. Jetzt ist sie auf dem Bürgeler Friedhof beerdigt. Für ihre Bestattung sammelte die Gemeinde 5000 Euro. „Es hat sie sehr bewegt, dass die Deutschen ihr jetzt geholfen haben, nachdem sie einst vor ihnen fliehen musste. Das gehörte zu ihren letzten Worten“, sagt Gurewitz.

Auch das Schicksal einer Familie aus dem Donbass, deren Haus zerstört wurde, bewegt ihn: „Sie saßen hier in unserem Wohnzimmer, völlig traumatisiert. Die Kinder und die Frau haben kein Wort herausgebracht. Ihre Augen waren ganz leer.“ Mittlerweile gehe es ihnen etwas besser, aber der Schmerz sitze immer noch tief. „Wir müssen weiter helfen. Es ist unsere Aufgabe und unsere religiöse Pflicht, Licht und Liebe in das Leben der Menschen zu bringen“, sagt der Rabbi. „Und wir sind dankbar, trotz aller Anstrengung, mit dieser Aufgabe anvertraut worden zu sein.“

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