22.08.2022

Von Glaube und Wundern: Daniel Neumann darüber, warum wir keine Zeichen brauchen, um von der Existenz G’ttes überzeugt zu sein

Darmstadt

Es ist ein beliebtes Credo. Bei Zweiflern und Erschütterten. Bei Skeptikern und solchen, die es werden wollen. Und bei denjenigen, die eine Ausrede oder Entschuldigung suchen, um sich nicht mit G’tt beschäftigen zu müssen.

Dieses Credo lautet: Ich würde an G’tt glauben, wenn er mir einen eindeutigen Beweis für seine Existenz liefert – einen Beleg, der alle Zweifel beseitigt. Dann ginge es zwar eigentlich nicht mehr um Glauben, sondern um Gewissheit, da der Glaube den Zweifel voraussetzt. Doch was soll’s.

Aber mal ehrlich: Wäre es nicht großartig, eindeutige Zeichen zu bekommen und Zeuge von Wundern zu werden, die die Existenz G’ttes beweisen? Ihm persönlich zu begegnen? Wie einfach wäre es dann, zu glauben! Und wie leicht würde es sein, den Gesetzen des Ewigen zu folgen und seinem Willen zu entsprechen, ihn zu ehren und zu fürchten!

Wie wunderbar. Und wie unzutreffend. Oder wie unsere jüngeren christlichen Geschwister es ausdrücken würden: »Wer’s glaubt, wird selig!« Denn die Annahme, dass klare Zeichen, überwältigende Wunder und sichtbare Beweise für die Existenz G’ttes tatsächlich in nachhaltigen Glauben münden würden, ist vor allem eines: ein Irrglaube.

Tatsache Schließlich begegnen uns tagtäglich unzählige Wunder, die wir schon lange nicht mehr als solche wahrnehmen, und zwar die Tatsache, dass unsere Erde mit all ihrer Vielfalt überhaupt existiert, eingebettet in ein fein justiertes Universum. In genau dem richtigen Abstand zur Sonne, um nicht zu verbrennen oder zu Eis zu erstarren. Oder der Umstand, dass überhaupt Leben möglich ist.

Entstanden aus dem Nichts. Und weitergegeben durch die Verbindung von Ei- und Samenzellen, woraus in einem unglaublichen Prozess wiederum neues Leben entsteht. Oder die Tatsache unseres Bewusstseins. Oder unserer Fähigkeit, Liebe zu empfinden, zu schenken und damit neue Beziehungen zu schaffen. Und so vieles mehr. All das sind Wunder, die auf die Existenz eines Schöpfers hindeuten und die die Mehrheit trotzdem nicht zu überzeugen vermag.

Was einerseits daran liegen mag, dass die Urheberschaft dieser Mysterien nicht eindeutig genug ist. Oder eben daran, dass wir uns an diese Phänomene schon längst gewöhnt haben und sie deshalb als selbstverständlich hinnehmen.

Doch selbst wenn Gewöhnung und Zweifel ausgeräumt würden und das Wirken des Ewigen eindeutig wäre, hätte das nur selten den gewünschten Effekt. Das musste G’tt im Lauf der Geschichte mehr als einmal leidvoll erfahren. Und nicht selten sorgte ausgerechnet sein auserwähltes Volk für diese niederschmetternde Erkenntnis. Gerade die biblischen Erzählungen über die Befreiung der Israeliten aus der ägyptischen Sklaverei mit allem, was dazu gehört, sind deutlicher Ausdruck dieses Umstands. Denn sie berichten von Wundern und überwältigenden G’tteserfahrungen, ohne dass dadurch unbedingter Glaube erwachsen wäre.

Freiheit So berichtet das 2. Buch Mose umfassend darüber, wie die Israeliten unter der Knechtschaft in Ägypten gelitten hatten. Wie es ein Crescendo von zehn Plagen brauchte, mit dem der Ewige Ägypten heimsuchte, bevor die Sklaven endlich in die Freiheit entlassen wurden. Wie G’tt sie aus dem Sklavenhaus herausführte, sie schützte, das Meer für sie teilte, sie in der Wüste ernährte und sich in einem einmaligen, epochalen Moment vor ihnen am Berg Sinai offenbarte. Wie er mit den dort versammelten Menschen einen Bund schloss und dem ganzen Volk ein ewiges Gesetz übertrug.

Es sind Ereignisse, die so außergewöhnlich, so einmalig, so überwältigend waren, dass es nicht den geringsten Zweifel an der Existenz und der Macht des Ewigen hätte geben dürfen. Die zu tiefster Überzeugung und unerschütterlichem Glauben hätten führen müssen – theoretisch zumindest. In der Praxis allerdings geschah etwas anderes. Da bauten die Israeliten nur wenige Wochen später ein Goldenes Kalb. Ein Götzenbild. Und meinten, G’tt darin erkennen zu können.

Der allmächtige Schöpfer des Universums, der sie auf wundersame Weise gerettet und dabei eine der größten Zivilisationen der Antike in die Knie gezwungen hatte, der sich ihnen offenbart und die Herstellung jeglicher Götzen ausdrücklich verboten hatte, war zu einem dumm glotzenden Goldenen Kalb gemacht worden.

Fähigkeit All das klingt geradezu unglaublich. Und beschreibt doch nur unsere menschliche Natur und unsere ausgeprägte Fähigkeit, zu verdrängen, zu vergessen und zu rationalisieren. So wie in dem Witz, in dem sich ein Jude in New York auf dem Weg zu einem enorm wichtigen Vorstellungsgespräch befindet und händeringend nach einem Parkplatz sucht.

In seiner Verzweiflung wendet er den Blick gen Himmel und fleht: »Lieber G’tt, bitte hilf mir! Ich weiß, ich war kein Musterschüler. Ich habe nicht an Dich geglaubt und habe Deine Gesetze nicht befolgt. Aber wenn Du mir jetzt hilfst, dann verspreche ich Dir hoch und heilig, dass ich mich ändern werde! Ich werde den Schabbat halten. Ich werde koscher essen. Und ich werde meine Mitmenschen besser behandeln. Aber bitte, G’tt, hilf mir, einen Parkplatz zu finden!«.

In diesem Moment verdunkelt sich schlagartig der Himmel, es blitzt und donnert, und mit einem Mal wird direkt vor dem Juden eine Parklücke frei. Da schaut er nach oben und sagt: »Hat sich erledigt! Ich habe schon einen gefunden!«

Zeichen Fest steht, dass die einfache Gleichung von »Wunder hier gleich Glauben dort« nicht aufgeht. Woody Allen hat einmal gesagt: »Wenn G’tt mir doch nur ein klares Zeichen geben würde! Etwa eine große Summe auf meinem Schweizer Bankkonto …« Aber was dann? Würde Woody Allen dann tatsächlich beginnen zu glauben? Gewiss nicht!

Stattdessen würde er sofort anfangen, nach einfacheren Erklärungen für den unerwarteten Geldsegen zu suchen. Vielleicht stimmt der Kontoauszug nicht? Oder jemand hat versehentlich eine Überweisung getätigt? Oder die Bank hat einen Fehler gemacht? So oder so: Spätestens nachdem das Geld ausgegeben worden wäre, hätte das große Vergessen eingesetzt. Und es hätte neue Zeichen gebraucht, um den Zweifel ins Wanken zu bringen.

Rabbiner Baruch Leff hat dieses Phänomen mit »emotionaler Flexibilität« beschrieben. Und diese uns Menschen innewohnende Eigenschaft hat gute und schlechte Seiten. Denn wer kennt folgende Situation nicht: Man hört einen anregenden, spannenden Vortrag und hat schon kurze Zeit später vergessen, worum es darin überhaupt ging. Man liest ein inspirierendes Buch und fasst den Vorsatz, die dort enthaltenen Lehren umsetzen zu wollen. Dummerweise fällt man nur kurze Zeit später in seinen alten Trott zurück.

Vorsätze Man geht auf die Beerdigung eines nahen Angehörigen, wird sich bewusst, wie wertvoll und kurz das Leben ist, und nimmt sich vor, seinem Partner fortan täglich zu sagen, wie wichtig und wertvoll er ist. Doch schon bald sind alle guten Vorsätze wieder vergessen.

Das Ganze funktioniert zum Glück auch in die andere Richtung: Wenn wir Schicksalsschläge erleiden, wenn uns Tragödien widerfahren oder das Unglück zuschlägt, sind wir zwar eine gewisse Zeit erschüttert, traurig, verzweifelt oder entmutigt. Doch mit der Zeit sind wir in der Lage, die Ereignisse zu verdrängen, zu verarbeiten oder mit ihnen umzugehen. Wir können dann wieder in den Alltag zurückkehren und trotz der Nackenschläge weitermachen.

Die emotionale Flexibilität sorgt also dafür, dass wir einerseits ziemlich anpassungsfähig sind und andererseits doch häufig zum Ausgangspunkt zurückkehren. Wir können viel aushalten, viel erleben, viel erfahren, sind dehnbar und belastbar wie ein Gummiband. Und tun uns gleichzeitig schwer damit, den Dehnungszustand aufrechtzuerhalten.

Überzeugungen Das heißt aber eben auch, dass einmalige, außergewöhnliche Erlebnisse uns nur selten fundamental verändern. Unsere Überzeugungen werden nicht dauerhaft geprägt oder unser Verhalten nachhaltig geformt.

Stattdessen verblasst das Erlebte nur allzu schnell, wird relativiert oder rationalisiert. Will heißen: Der Glaube entsteht nur selten durch Zeichen und Wunder. Und kann so auch nicht auf Dauer aufrechterhalten werden. Da braucht es ganz andere Geschütze. Und vielleicht ist das auch gut so.

Der Autor ist Direktor des Landesverbandes der Jüdischen Gemeinden in Hessen.

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