Hinter jeder Zahl ein Schicksal
Sie habe das Gefühl gehabt, sagte Simone van Slobbe von der Initiative Stolpersteine Pohlheim e. V., bei der Begrüßung, nun endlich, 77 Jahre nach Ende des von den Nazis entfesselten Krieges, habe man die wertvollen Gegenstände befreien dürfen. Die Synagoge in Holzheim, ursprünglich ein kleines Fachwerkhaus, das von 1854 bis 1938 den Juden aus Holzheim und Grüningen als Gebetshaus diente, wurde - man nahm »Rücksicht« auf die angrenzenden Häuser - nicht komplett niedergebrannt, sondern »nur« innen zerstört. Doch 16 Schriften, Bücher oder Pergamentrollen und - ein besonderes Objekt - ein bemaltes und beschriftetes Textilband, hat ein Unbekannter retten können. Die heiligen Gegenstände wurden wohl erst im Rathaus, später dann im Archiv der Stadt Pohlheim gelagert. Vor einigen Jahren kam das Ehepaar van Slobbe, in Zusammenarbeit mit der Historikerin Sabine Sander, die über das jüdische Leben in Holzheim und Grüningen forschte, auf die Idee, die Gegenstände zurückzugeben. Ein Unterfangen, das letztlich auch mithilfe des Pohlheimer Bürgermeisters Andreas Ruck gelang. Ruck betonte bei seiner kurzen Ansprache, wie erfreut er gewesen sei, dass die Jüdische Gemeinde das Angebot der Übergabe angenommen habe.
»Es war an Hanukkah, als man uns das Angebot unterbreitete, also an diesem Feiertag, an dem wir auch der Wunder gedenken.« So formulierte es Marina Frankfurt, die Vorsitzende der Gemeinde. Warum die Freude über dieses kleine »Wunder« so groß war, erläuterte Rabbiner Shimon Großberg, bevor er mit einem Gebet die Ausstellung segnete. Ihre Religion schreibe ihnen vor, heilige Gegenstände wie Thorarollen, Schriften, Leuchter oder Gebetschals mit höchstem Respekt zu behandeln. Niemals dürfe man diese Dinge einfach entsorgen. Oder irgendwo lagern. Nein, sie werden in einem Winkel auf dem Friedhof begraben oder, manchmal über Jahrhunderte, in einer Art von heiliger Truhe verwahrt. Denn die Schriften tragen das Spirituelle in sich. Und deshalb sei die Rückkehr des Holzheimer Fundes von großem Wert.
Geschichte wirkt in die Gegenwart
Welche Bedeutung die kleine Ausstellung hat, erläuterte Dow Aviv, der Vorsitzende der Jüdischen Gemeinde. Immer wieder führe er Schulklassen durch ihr Haus und die »Beith-Jaakov-Synagoge« im Innenhof und versuche, den Jugendlichen, in diesen Tagen wichtiger denn je, zu verdeutlichen, was das war, die Shoah. Nun habe er zusätzlich die Möglichkeit mittels der übergebenen Schriften, von denen viele mit Namenstempeln oder Bleistiftinschriften den jeweiligen Besitzern zuzuordnen sind, klarzumachen, dass hinter jeder Zahl ein menschliches Schicksal stehe. Geschichte sei eben nichts Abstraktes, sondern wirke in die Gegenwart - und müsse das auch, wenn man aus ihr lernen wolle.
In Holzheim und Grüningen lebten zu Beginn der NS-Zeit etwa 35 Juden. Etwa zehn von ihnen gelang rechtzeitig die Flucht. Der Rest wurde deportiert und starb entweder auf dem Transport oder in den Lagern. Nun kann man sich ihrer erinnern, auch anhand der ausgestellten sogenannten Kennkartenanträge: Formulare, mit denen die Juden quasi ihren Judenstern selbst beantragen mussten. Die Toten und Gequälten haben nun einen Namen. Dies sei sehr wichtig, betonte Aviv.
»Vor allem Shalom!«, wünschte Frankfurt zum Abschied. Und Pfarrer Martin Bubel aus Pohlheim, der mit an der Rückgabe gearbeitet hatte, zitierte aus dem Lied »Das Zeichen« von Schalom Ben-Chorin: »Freunde, dass der Mandelzweig wieder blüht und treibt, ist das nicht ein Fingerzeig, dass die Liebe bleibt? Dass das Leben nicht verging, so viel Blut auch schreit, achtet dieses nicht gering in der trübsten Zeit.«