03.10.2022

Das Netzwerk ist vollendet

Gießen

Mit Gründung der Jüdisch-Islamischen Gesellschaft Gießen kooperieren in der Stadt an der Lahn jetzt alle drei Buchreligionen. Die Politik soll in der Zusammenarbeit keine Rolle spielen.

In Zeiten, in denen viel über kulturelle Aneignung geklagt und Trennendes betont wird, soll am Beginn dieses Berichts über die Gründung der Jüdisch-Islamischen Gesellschaft Gießen im Hermann-Levi-Saal des Rathauses ein schönes Beispiel des kulturellen Austauschs stehen. Wer weiß schon, dass das urbayrische Instrument des Hackbretts, auch Zither genannt, das durch den Film »Der Dritte Mann« weltberühmt wurde, eigentlich ein kultureller Import aus der Türkei ist, wo es Kanun bezeichnet wird? Die Geschichte des Kanun reicht aber noch weiter zurück, denn die Osmanen übernahmen es von den Arabern und die wiederum aus Jerusalem, wo das Instrument schon seit biblischen Zeiten bekannt ist.

So war es mehr als passend, dass die einzelnen Redebeiträge während der Gründungsfeier vom Kanun-Virtuosen Abdurrahman Köse mit klassischen türkischen Melodien, aber auch mal mit Beethovens »Kleine Nachtmusik« aufgelockert wurden.

Politik ausgespart

Auch wenn die offizielle Vereinsgründung noch nicht vollzogen ist, Urkunden noch nicht unterschrieben und die beiden wahrscheinlichen Vorsitzenden, Dr. Halit Aydin und Dow Aviv, noch nicht gewählt worden sind, schließt sich mit der von der Ditib-Moschee, der Islamischen Gemeinde Gießen (IGG), der Buhara Moschee und der Jüdischen Gemeinde Gießen beschlossenen Gemeinschaft das Dreieck der drei Weltreligionen in der Stadt. So jedenfalls formulierte es Oberbürgermeister Frank-Tilo Becher in seinem Grußwort an die rund 80 geladenen Gäste.

Zusammen mit der Christlich-Islamischen Gesellschaft (CIG) und der Gesellschaft für Christlich-Jüdische Zusammenarbeit sei damit das Netzwerk zwischen den drei Buchreligionen in der Stadt vollständig geknüpft, wie es Pfarrer Bernd Apel vom Rat der Religionen im Landkreis ausdrückte. Die institutionalisierte Zusammenarbeit zwischen Juden und Muslimen sei, so Becker, mutig, in jedem Fall aber noch selten. Allerdings stünden solche Kooperationen auch unter einem besonderen politischen Druck.

Während christlich-jüdische Zusammenarbeit immer unter dem Schatten der deutschen Geschichte liege, würden jüdisch-islamische Kooperationen natürlich auch von der Tages-, sprich Nahostpolitik, beeinflusst. Deshalb habe man sich im Vorfeld darauf verständigt, dass Politik in der neuen Gesellschaft keine Rolle spielen solle, sagte Aydin, der auch Pressesprecher der Ditib-Gemeinde ist. Auch Dow Aviv betonte, dass man sich aus den aktuellen politischen Konflikten heraushalten und das gemeinsame, nicht das Trennende betonen wolle. Er räumte ein, dass die neue Kooperation in der Jüdischen Gemeinde nicht unumstritten gewesen sei.

Es war auch die Ditib-Gemeinde, die die Initiative für die neue Partnerschaft ergriffen hatte. Wie wichtig diese auf islamischer Seite genommen wird, zeigte sich auch an den Gästen. Überregionale Vertreter an diesem Abend waren der Generalsekretär des Zentralrats der Muslime Deutschlands, Abdassamad El Yazidi, und Salih Özkan, der hessische Landesvorsitzende des Religionsvereins, der direkt dem staatlichen türkischen Präsidium für religiöse Angelegenheiten untersteht, das wiederum direkt dem türkischen Präsidenten unterstellt ist.

Yazidi zitierte aus dem Koran den Satz »Und wenn Gott gewollt hätte, hätte er euch zu einer einzigen Gemeinschaft gemacht«. Aber er habe die Menschen verschieden gemacht. Wer indes glaube, alle Menschen gleichmachen zu können, handele gegen den göttlichen Auftrag. »Das sage ich auch und gerade uns Muslimen.« Yazidi betonte zudem, dass im deutschen Parlament Parteien seien, die die Zusammenarbeit zwischen Juden und Muslimen, für die es übrigens höchste Zeit sei, stoppen wollten. Nach Yazidis Auffassung habe sich Deutschland in den vergangenen Jahren in Sachen Toleranz zurückentwickelt. Heute würden im Bundestag Muslime pauschal als »Messerstecher« beschimpft. Hinter diesem »antimuslimischen Rassismus« würden sich jedoch ganz viele Rassismen verstecken, auch der Antisemitismus.

Glück kennt keine Grenzen

Marina Frankfurt, die Vorsitzende der Jüdischen Gemeinde Gießen, betonte in ihrer emotionalen Rede, dass ihr Glück keine Grenzen gekannt habe, als sie das Angebot der Ditib-Gemeinde zur Gründung einer Partnerschaft erhalten habe. Gemeinsam wolle man jetzt das Zusammenleben in der Stadt in gegenseitigem Respekt und Friedenswillen verbessern.

»Ich habe heute viel Neues über den Islam gehört, das mich positiv überrascht hat, obwohl ich keine negative Einstellung gegenüber dieser Religion habe«, bekannte die letzte Rednerin des Abends, Gila Rothschuh vom Ausländerbeirat Lich. Nach ihrer Überzeugung wüchsen eine gewisse Islamophobie, aber auch der Antisemitismus im Land, die durch die Sozialen Medien noch verstärkt würden. Deshalb müsse man sich gemeinsam verstärkt gegen Fremdenhass engagieren.

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