04.11.2022

Die Pharisäer als Heuchler: Daniel Neumann darüber, wie die Kirche mit einem Begriff jahrhundertelang antisemitische Vorurteile befeuerte

Darmstadt

Juden sind ein beliebtes Ziel für Vorurteile aller Art. Das waren sie immer, und das werden sie wahrscheinlich auch immer sein. Sie kennen doch bestimmt auch solche im Brustton tiefer Überzeugung vorgebrachten Äußerungen. Etwa: »Alle Juden sind reich« oder »Die Juden sind gut im Verhandeln« oder »Juden haben ein gutes Händchen fürs Geld«.

Apropos Juden und Geld.

Kennen Sie den Witz, in dem Moishe und Jankl einen Spaziergang machen und an einer Kirche mit einem Schild vorbeikommen, auf dem steht: »Jesus liebt dich! Lass dich taufen und erhalte 100 Euro.« Moishe meint: »Hey Jankl, ich habe eine gute Idee. Du gehst in die Kirche, lässt dich taufen, und wir teilen uns das Geld.« Jankl findet die Idee genial, verschwindet in der Kirche und kommt nach zehn Minuten gut gelaunt wieder heraus. Moishe erkundigt sich, ob alles geklappt hat, und fragt nach seinem Anteil. Darauf schüttelt Jankl mit dem Kopf und meint verärgert: »Geld ist wohl das Einzige, was euch Juden interessiert, was?«

Als Witz mag man darüber lachen. Wenn sich diese Vorstellungen allerdings in Vorurteilen materialisieren, ist es nicht mehr ganz so lustig. Dabei mag es in der echten Welt durchaus Juden geben, die das Vorurteil bestätigen. Während andere es widerlegen. Letztlich ist das aber auch irrelevant, denn ein Vorurteil ist ja nicht dazu da, die Bestätigung seiner Unterstellung zu erbringen. Sondern es kommt gerade ohne Beweisführung aus. Mehr noch: Je weniger der Konsument versucht, seine Behauptung mit der Wirklichkeit abzugleichen, desto besser funktioniert das Vorurteil.

MEA CULPA Wenn es um Juden als Ziel von Vorurteilen geht, dann haben vor allem die christlichen Kirchen Anlass, sich mit einem lauten »Mea culpa« an die eigene Brust zu schlagen. Denn sie haben im Laufe der Zeit reichlich antijüdisches Material entwickelt und verbreitet. Ein Klassiker ist etwa der Ausdruck des Pharisäers, der immer dann herhalten muss, wenn ein Synonym für einen Heuchler gesucht wird.

Dieser Begriff hat seine negative Färbung vor allem der Darstellung der Pharisäer im sogenannten Neuen Testament zu verdanken, wo diese als hinterhältige Heuchler gelten. Als hochmütig, scheinheilig, selbstgerecht. Das ist historisch zwar völlig falsch, ändert aber leider nichts an der Tatsache, dass der Begriff es samt der hässlichen Zuschreibung in die deutsche Sprache ebenso geschafft hat wie in die englische.

Wer oder was aber waren die Pharisäer wirklich? Und weshalb wurden sie ebenso wie die Juden als solche in derart schlechtem Licht dargestellt? Die Pharisäer waren in erster Linie Schriftgelehrte zur Zeit des Zweiten Tempels. Sie grenzten sich vor allem von den Sadduzäern ab, die als Tempel-Aristokratie im Laufe der Zeit von Geld und Macht korrumpiert wurden.

Und während sich die Sadduzäer strikt am Wortlaut der Tora orientierten und den Tempel- und Opferdienst orchestrierten, bestanden die Pharisäer darauf, auch weitere, mündliche Überlieferungen als verbindlich anzuerkennen. Sie interpretierten und diskutierten Gesetz und Lehre fortwährend. Und sie waren es schließlich auch, die das jüdische Gesetz nach der Zerstörung des Zweiten Tempels am Leben hielten, indem sie es transformierten und weiterentwickelten. Sie sind also die eigentlichen Gründerväter des rabbinischen Judentums, in dessen Fußspuren wir heute wandeln.

DISKUSSIONEN Interessant ist, dass ausgerechnet die Pharisäer eine ganze Reihe von Ideen lehrten, auf denen auch das Christentum fußt. Und es waren ebendiese Pharisäer, mit denen Jesus sich umfangreiche Diskussionen lieferte. Und damit beginnt auch das Vorurteil langsam Formen anzunehmen.

Die Schmähungen gegen die jüdischen Schriftgelehrten ziehen sich jedenfalls wie ein roter Faden durch die Evangelien des Neuen Testaments. Im Matthäus-Evangelium etwa werden die Pharisäer gleich an mehreren Stellen als »Schlangenbrut« beschimpft und immer wieder als »Heuchler« bezeichnet.

Doch warum? Was war der Grund für die Abneigung und den Hass? Die zahlreichen Streitgespräche zwischen ihnen und Jesus allein können es nicht gewesen sein. Denn solche Diskussionen waren im jüdischen Kontext völlig normal, waren das Salz in der Suppe und unabdingbar im Ringen um die Frage, wie G’ttes Wort in die Praxis und den Alltag zu überführen sei.

Und auch die Verärgerung des reformwilligen und rebellischen Jesus über die offenbar einflussreichen und ihren Machtbereich vermutlich heftig abschirmenden Schriftgelehrten ist keine ausreichende Erklärung. Denn wer eine Reform vorantreiben will, muss mit Widerstand rechnen. Wer gegen das Establishment aufbegehrt, muss unter Umständen mit harten Bandagen kämpfen und auch Rückschläge einstecken.

Und wer seine Gefolgschaft bei der Stange halten will, der muss seine Kritik an den bestehenden Verhältnissen und an den Protagonisten dieser Verhältnisse ständig wiederholen. Aber das rechtfertigt den glühenden Hass auf die Pharisäer, der sich in den Evangelien niederschlägt, noch lange nicht.

DNA Was den Ausschlag gab, war hingegen Folgendes: Das Christentum ist aus dem Judentum heraus geboren worden, besitzt jüdische DNA. Jesus war jüdisch. Die Apostel waren jüdisch. Die Texte, auf die sie sich beriefen und nach denen sie lebten, waren jüdisch.

Und doch ging man irgendwann eigene Wege, entfernte sich, ohne die Verbindung vollständig zu kappen. Verkündete neue, eigene Wahrheiten, die mitunter in krassem Widerspruch zu den Lehren des Judentums standen, präsentierte Jesus als den Sohn G’ttes, als Messias, der gekommen sei, die ganze Menschheit zu erlösen.

Man erklärte sich zum neuen Israel – und erwartete, dass gerade und vor allem die Juden sich dieser neuen Religion mit Leib und Seele verschrieben. Das Problem aber war, dass genau das nicht geschah. Dass die große Mehrheit der Juden dem neuen Pfad nicht folgen wollte. Und seine Lehren und Theologien rundheraus ablehnte.

GESCHWISTER Wie aber sollte man die eigene Existenz und die eigenen Lehren rechtfertigen, wenn ausgerechnet die älteren Geschwister sich kopfschüttelnd abwandten? Wenn sie nicht zu begeisterten Anhängern wurden, sondern stattdessen unbeirrt an der Tora und ihren Lehren festhielten? Wie konnten diese Juden nur so blind sein? Wie konnten sie nicht sehen, was die Christen sahen?

Ein Weg, das Problem zu lösen, schien darin zu bestehen, den Konflikt zwischen den intellektuellen Sparringspartnern, also Jesus und den Pharisäern, in den Evangelien, die ja erst einige Jahrzehnte nach den eigentlichen Ereignissen verfasst wurden, zu überhöhen. Und gleichzeitig die zentralen Vertreter des Judentums zu stigmatisieren und zu verleumden. So ließ sich die Minderwertigkeit des Judentums nachvollziehbar begründen.

Denn eine Religion, die solch Gelehrte wie die Pharisäer hervorbringt, konnte weder wahr noch erstrebenswert sein.

Gleichzeitig galt es, so viel Distanz wie nur möglich zwischen sich und die älteren Geschwister zu bringen. Denn so ließ sich die Nähe zum Judentum als Wiege und Ursprung des Christentums am wirkungsvollsten verleugnen. Und so konnte der vorgeblich kontaminierte Boden entgiftet werden, um darauf den eigenen, reinen Wahrheitsanspruch zu gründen.

Wie wir aus leidvoller Erfahrung wissen, ging diese Strategie jahrhundertelang auf. Und zwar nicht nur mit Blick auf das Zerrbild, das man zu Unrecht von den Pharisäern zeichnete.

Doch trotz aller Beharrlichkeit, mit der die Kirche die antijüdischen Vorurteile entwickelt, verbreitet und beibehalten hat, läutete gerade das vergangene Jahrhundert eine Zeit des Wandels ein. Es war Papst Johannes XXIII., der endlich mit jenen Standards brach, die so viel Elend und Leid über die Juden in aller Welt gebracht hatten.

Dieser historische Kurswechsel hat zwar einerseits den Weg für eine veränderte Sicht auf die Juden frei gemacht und ein neues Verhältnis von Christen und Juden ermöglicht. Er hat die Vorurteile aber nicht von heute auf morgen entkräften können. Natürlich nicht! Denn dazu sind sie zu lange gepflegt worden. Und dafür sitzen sie zu tief. Aber der Weg weist immerhin in die richtige Richtung.
 

Der Autor ist Direktor des Landesverbandes der Jüdischen Gemeinden in Hessen

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