"Wir haben uns getäuscht": über 80 Jahre nach der Pogromnacht ist Polizeischutz für Synagogen zum großen Bedauern nicht nur des OB „notwendiger denn je"
Von Links, von Rechts, von Vertretern anderer Religionen, „ von Bildungsbürgern oder Fundamentalisten" komme dieser. ,"Deshalb braucht es mehr wir und weniger sie."
Zu Beginn seiner Ansprache in der gut besuchten neuen Synagoge erzählte der Vorsitzende von einem Bekannten über 80, "besessen von der Shoah". Während der Gräuel habe der zwar sicher im damaligen Persien gelebt, aber aus Berichten durchfahre ihn immer wieder „ein Unbehagen, wie eine nicht enden wollende Heimsuchung". überwinde der alte Mann seine Sprachlosigkeit, lande er bei Tatenlosigkeit, Skrupellosigkeit, mörderischer Bürokratie. Unmöglich bleibe, das Warum zu begreifen. Wie und weshalb sich in jener schicksalsschweren Nacht auf den 10. November 1938 durch Schergen des NS-Regimes und zahlreiche Mitbürger Bahn brach, was im Mord an sechs Millionen Juden mündete.
Ausdrücklich bedankte sich Neumann bei der obligatorisch anwesenden Polizei, "die für unseren Schutz sorgt". Nicht nur Darmstadts Oberbürgermeister Jochen Partsch (Grüne) betrübt, dass dies "heute notwendiger denn je" sei. Ziel müsse bleiben, dass kein Polizeiauto mehr vor einer Synagoge stehen muss, dass alle Jüdinnen und Juden sich als selbstverständlicher Teil der Gesellschaft auch angstfrei so fühlen können. "Wir haben uns getäuscht" , räumte das Stadtoberhaupt ein, auch selbst noch vor 10, 15 Jahren vom Niedergang des Antisemitismus ausgegangen zu sein. Das aktuelle Lagebild Antisemitismus der Amadeu-Antonio-Stiftung beschreibe den wachsenden Antisemitismus in Deutschland als „Brückenschlag über alle Klassen und Milieus hinweg".
Bei aller Unvergleichbarkeit des NS-Terrors sollten aktuelle Entwicklungen auch im Rückblick alarmieren, zeigte Partsch auf. Zwei Jahre, bevor Mobs plündernd und brandschatzend, mit tödlicher Gewalt durch deutsche Straßen zogen, fand Olympia 1936 in Berlin statt. Kurz vor der umstrittenen Fußball-WM in Katar gehöre es nun hierzulande zum guten Ton, Menschenrechte einzufordern, die vor nicht mal einem Jahrhundert auf das Schlimmste mit Füßen getreten wurden.
Neumann sprach über „mehr als 3000 antisemitische Taten allein im vergangenen Jahr" und die Gefahr des Zulassens. Wie beim Eklat zur diesjährigen Weltkunstausstellung Documenta in Kassel. Was Verantwortliche zunächst als Kunstfreiheit verteidigten, war ein indonesisches Banner, das über einen voller Stereotypen gezeichneten Juden sinnbildlich verunglimpfte. Als besonders tolerant auftretende woke Mitmenschen, "all diejenigen, die für Doppelpunkte und Sternchen kämpfen, wollten nicht sehen, was sich vor ihren Augen abspielt".
Für Vertrauen und Miteinander, das auch in der Krise greift, warb die Vorsitzende des Gesprächskreises „Juden und Christen" beim Zentralkomitee der deutschen Katholiken, Dagmar Mensink. Die Pogromnacht sei Vorbotin des unermesslichen Leids gewesen. Mahnend: "Wenn öffentliche Ordnung und staatliche Gewalt erst einmal von Hass und Hetze bestimmt sind, ist es zu spät."
(Quelle: Darmstädter Echo vom 11.11.2022)