Neuer Gedenkort für die Ewigkeit
Zwei Männer mit schwarzen Hüten und langen Bärten schreiten langsam die L-förmige Rasenfläche ab. Sie sprechen leise Gebete. An den Ecken des kleinen Areals auf dem Neuen Friedhof in Gießen bleiben sie stehen, beugen sich mehrmals nach vorne und schaukeln dann mit dem Oberkörper von rechts nach links. Hinter ihnen her laufen acht weitere Männer, zum Teil mit grauen Haaren, gebeugt oder mit Krückstock. Auch sie lesen von Zetteln leise Gebete ab. Nach jeder der sieben Runden, die sie gehen, nimmt einer der Männer mit Hut, Rabbi Schimon Großberg, ein Horn an die Lippen und lässt einen durchdringenden Ton erklingen. Das Schofar ist ein oft aus dem Horn eines Widders gefertigtes Instrument und hat seinen Ursprung in der jüdischen Religion. Es dient damals wie heute rituellen Zwecken - wie bei der Einweihung des neuen Gräberfelds für jüdische Verstorbene am Donnerstag auf dem Neuen Friedhof in Gießen.
»Tote Menschen schnellstmöglich zu beerdigen, ist die höchste Pflicht für Lebende«, sagt Dow Aviv, Vorsitzender der jüdischen Gemeinde Gießen; da spielt es keine Rolle, ob die Toten Familienmitglieder oder Fremde sind. Der Leichnam wird vorher gesegnet, gewaschen, in Tücher gehüllt und zu Grabe getragen, wobei immer ein Kontakt zur Erde hergestellt sein muss. Denn: »Der Mensch stammt von der Erde und dorthin kehrt er wieder zurück.« Die Särge, betont Aviv, seien dabei bewusst einfach gehalten. »Denn alle Menschen sind gleich.«
1907/08 wurde auf dem 1903 eröffneten Neuen Friedhof in Gießen das jüdische Gräberfeld eingeweiht. Vor allem im östlichen Bereich des großen Gedenkorts finden sich viele Gräber der jüdischen Gemeinde sowie der orthodoxen Israelitischen Religionsgesellschaft. Ebenfalls dort befindet sich die aufwendig gestaltete jüdische Friedhofshalle in romanischer Form.
Das neue Gräberfeld hingegen findet sich weit entfernt von dieser Halle - im hinteren Bereich des Neuen Friedhofs in der Abteilung XV. Vor allem für die vielen älteren Mitglieder der jüdischen Gemeinde ist dieser Hin- und Rückweg beschwerlich. Wie Aviv sagt, gebe es aber bereits Gespräche mit der Stadt, ob nicht Elektrofahrzeuge eingesetzt werden können, die Mitgliedern einer Trauergemeinde, die nicht mehr gut zu Fuß sind, diesen letzten gemeinsamen Gang mit dem verstorbenen Menschen erleichtern.
Zehn Männer als Gemeinschaft
Die ersten sechs Runden um das neue Gräberfeld drehen die zehn Männer noch ohne Zuschauer. Die Anzahl der Teilnehmer ist wichtig. Der Minjan ist eine Gemeinschaft von zehn jüdischen Männern, die zum Verlesen von wichtigen Gebeten zusammenkommen müssen. Zwar sagt Rabbi Großberg, dass er dies auch mit seinem Kollegen Mendel Gourevitz alleine machen könnte. »Aber wenn wir zu zehnt sind, ist es würdevoller.« Zur letzten Runde kommen schließlich noch zwei weitere Männer hinzu.
Der Ablauf der Umrundung ist dabei penibel vorgegeben: In der Einweihungsordnung heißt es zum Beispiel: »Wir starten in der südöstlichen Ecke mit den Psalmen 1 bis 4, gefolgt von Psalm 102.« Dann geht es weiter Richtung Nordost mit dem Psalm 91 und dem Gebet »Ana Bechoach«. An der nordöstlichen Ecke angekommen, sagen die Männer Psalm 103 auf. Dann geht es Richtung Nordwest mit dem Psalm 90:17 sowie erneut mit dem Gebet »Ana Bechoach«. An der nordwestlichen Ecke folgt schließlich der Psalm 104.
Jüdische Gräber seien für die Ewigkeit ausgelegt, betont Aviv. Für sie gilt eine unbegrenzte Ruhefrist, sie dürfen also nicht eingeebnet werden. Deshalb finden sich auch keine Blumen auf den Gräbern, weil diese vergänglich sind - sondern Steine. So wichtig dieser Ort ist - so sehr bestimmt die Einweihung auch der Wunsch nach Gesundheit und Leben. Oder wie sagt Rabbi Großberg? »Ich hoffe, dass wir uns hier nicht so schnell wiedersehen.«