Seit Kain legt man auf das Grab einen Stein
Für christlich sozialisierte Menschen ist der Sommer eine Zeit unbeschwerter Lebensfreude. Die großen religiösen Feste wie Ostern oder Pfingsten liegen hinter uns. Auch im jüdischen Jahreskalender sind in diesen Wochen keine großen Feste verzeichnet. Jetzt ist Tammus, der zehnte Monat des jüdischen Kalenders, der im Jahr 5783 am 20. Juni begonnen hat und am 18. Juli endet - es geht um Einkehr und das Gedenken an die Zeit der »Bedrängnis«.
Es sind Tage der Trauer über den Verlust des Tempels in Jerusalem, der zu eben dieser Zeit im ersten Jahrhundert von den Römern zerstört wurde. Die Zerstörung markiert auch die Zerstreuung des jüdischen Volkes in der ganzen Welt. In diesen Wochen finden daher keine Hochzeiten statt, Musik ist verpönt und strenggläubige Männer rasieren sich nicht.
In Stein gemeißelt ist das freilich nicht, ist doch das Judentum eine Religion der Hoffnung und der Verheißung. Der Überlieferung zufolge werden sich, wenn dereinst der Messias erscheint, die Trauertage der drei Wochen in Tage überschwänglicher Freude wandeln.
Noch ist es nicht soweit. Die stille Zeit wird daher auch oft genutzt, um der Toten zu gedenken, auch in Gießen. Kürzlich besuchten Gemeindemitglieder den jüdischen Friedhof, jäteten Unkraut, entfernten Wildwuchs und Buschwerk um die Gräber. Zur Tradition gehört es auch, dass man Steine auf die Gräber der Vorausgegangenen legt und Kerzen für sie aufstellt.
Gemeindediener Isaac Kamenir (»Schreiben Sie bloß nicht Kaminer, das ist der andere, der Berühmte aus Berlin«) entzündet traditionell die ersten Lichter auf den Gräbern der Gemeindegründer: von Dr. Jakob Altaras und seiner Frau Dr. Thea Altaras.
Der bekannte Brauch, Steine auf ein jüdisches Grab zu legen, geht übrigens laut der Überlieferung bis auf den ersten Sohn von Adam und Eva zurück. Nachdem Kain seinen Bruder Abel erschlagen hatte, soll er dessen Leiche mit Steinen bedeckt haben, damit sie nicht von wilden Tieren gefressen würde. Der Stein symbolisiert aber auch Ewigkeit und Beständigkeit, sagt Kamenir, rückt sich seine Kappe mit dem Logo der New York Yankees zurecht und erläutert weiter, dass der Stein zudem späteren Besuchern zeige, dass an diesem Grab jemand des Verstorbenen gedacht habe.
Arbeitsplatz Tschernobyl
Für Beständigkeit in der Gießener Gemeinde steht seit einem Vierteljahrhundert Liubov Stremovska. Die 86-Jährige besucht die Mitglieder, die mittlerweile zu alt oder krank sind, um von Haiger, Herborn oder Dillenburg nach Gießen in die Synagoge kommen zu können. Auch wenn Liubov sich in erster Linie um das Seelenheil der ihr Anvertrauten kümmert und ihnen so das Gefühl gibt, nicht alleine und noch immer Teil der Gemeinschaft zu sein, hilft sie auch bei ganz praktischen Problemen, wie Behördengängen oder Arztterminen. Auch die Matze, das ungesäuerte Brot, das ein wichtiger Bestandteil des Pessachfestes ist (siehe Teil 1 der Serie) bringt die zierliche Frau zu den alten Menschen nach Hause, oder am Lichterfest Chanukka die Kerzen des heiligen Leuchters.
In die Wiege gelegt wurde das Liubov Stremovska nicht. Lange Jahre hat sie in der ukrainischen Industriestadt Dnipro als Ingenieurin die Energieversorgung eines chemischen Großbetriebes sichergestellt. Auch ihr inzwischen verstorbener Mann war Ingenieur. Kennengelernt hatten sich die beiden aber nicht bei der Arbeit, sondern beim Bergsteigen im Kaukasus. Der damalige Arbeitsplatz ihres aus St. Petersburg stammenden Gatten erlangte Jahre später weltweit traurige Berühmtheit. Liubov Stremovskas Mann arbeitete im Unglücksreaktor von Tschernobyl.
Auf ihre seelsorgerische Arbeit hat sich die Seniorin gut vorbereitet. Sie hat Sprachkurse absolviert und besucht bis heute regelmäßig Fortbildungen. Die seien eine unverzichtbare Hilfe für ihre Tätigkeit, aber auch eine große Inspiration. Diese Seminare seien auch wichtig, um den Zusammenhalt zwischen den elf jüdischen Gemeinden in Hessen zu stärken, betont sie.
Alle Strecken legt die Frau mit der dezenten Perlenkette mit Zug oder Bahn zurück, denn einen Führerschein besitzt sie nicht. Manchmal chauffiert sie auch ihr in Frankfurt lebender Sohn in die Rhein-Main-Metropole, wenn sie dort das jüdische Seniorenheim besucht.
Ein weiterer wichtiger Pfeiler jüdischer Sozialarbeit neben der Kontaktpflege zu den Menschen in den Familien oder Altersheimen und deren Angehörigen ist die Fürbitte. Liubov Stremovska betet regelmäßig in den Gottesdiensten für die Genesung der Kranken. Und manchmal, ja manchmal erhört Gott ja auch auf seinen unergründlichen Wegen ein Gebet. Ein Erlebnis hat sich ihr besonders eingebrannt. Einer der ihr Anvertrauten, den die Ärzte schon aufgegeben hatten, sei dann doch und völlig überraschend genesen.
Auch die kleine Jüdische Gemeinde selbst versucht, die Gemeinschaft zu festigen, betont Zhanetta Miirova vom Vorstand. Man trifft sich regelmäßig im Gemeindesaal, um gemeinsam die Psalmen zu lesen. Die würden im Gegensatz zur Thora nicht nur die Historie von großen Personen wie Moses oder König David erzählen, sondern direkt zu den Menschen mit ihren Sorgen und Nöten sprechen und ihnen Trost schenken. Auch nichtreligiöse Veranstaltungen finden im Gemeindesaal im Burggraben 4 statt: Konzerte, Lesungen und politische Vorträge, nicht nur zur Geschichte Israels oder des Nahostkonflikts, sondern beispielsweise auch zum Ukraine-Krieg, der viele Gemeindemitglieder ganz unmittelbar berührt, kommt doch ein Großteil von ihnen aus den Staaten der früheren Sowjetunion.
Ein altes Versprechen
Auch wenn man Liubov Stremovska ihre fast neun Lebensjahrzehnte wirklich nicht anmerkt, wenn sie da so sitzt und sorgsam artikulierend mit bedächtigen Worten versucht, mit ihren heftig gestikulierenden Händen Schritt zu halten, weiß sie, dass sie ihre Aufgabe in der kleinen Gemeinde nicht ewig ausüben wird. Eine Nachfolgerin ist aber zum Leidwesen des Vorstands nicht in Sicht. Noch aber ist ja die 86-Jährige für die Kranken und Alten da, denn: »Ich habe damals Frau Altaras versprochen, dass ich mich um die Menschen kümmern werde - und diesen Schwur werde ich nicht brechen.«
Ein Jahr begleitet der Anzeiger die Jüdische Gemeinde Gießen, um den Lesern jüdischen Alltag und Feste näherzubringen. Weitere Beiträge folgen jeweils alle vier Wochen.