Wiesbaden: Lehrhaus soll Verständnis für jüdische Kultur fördern
Ein reales Gebäude aus Stein ist das Jüdische Lehrhaus nicht. Es ist vielmehr ein „Haus der Worte“, erschaffen einst, um den Dialog zwischen Juden und Nichtjuden zu fördern, ganz im Sinne einer Ich-Du-Beziehung, wie sie Martin Buber entworfen hat, der Mitgründer und Lehrer am Jüdischen Lehrhaus in Frankfurt. Das Frankfurter freie Jüdische Lehrhaus habe auch eine Dependance in Wiesbaden gehabt, berichtet der Geschäftsführer der jüdischen Gemeinde Wiesbaden, Steve Landau. 1938 wurde sie von den Nazis geschlossen, die Synagoge im Hinterhof der Friedrichstraße 31 während der Novemberpogrome schwer beschädigt.
Hunderte Menschen jüdischen Glaubens mussten die Stadt verlassen, kamen in Konzentrationslagern ums Leben. An sie erinnert heute die Holocaust-Gedenkstätte am Michelsberg. Die 1550 Namen aller Wiesbadener Opfer der Nazi-Diktatur sind dort eingraviert. 721 Stolpersteine wurden vor den ehemaligen Wohnhäusern jüdischer Bürger:innen verlegt.
Die jüdische Gemeinde Wiesbaden wurde am 22. Dezember 1946 wiedergegründet, die Überreste der zerstörten Synagoge in der Friedrichstraße wurden abgerissen. Die neue Synagoge steht am alten Standort, sie wurde am 11. September 1966 eingeweiht. 2013 wurde auch die Idee eines Jüdischen Lehrhauses wieder aufgegriffen. Jacob Gutmark, seit vier Jahrzehnten im Vorstand der jüdischen Gemeinde aktiv und Dezernent für Kultur, gab den Anstoß.
Lernen sei ein Grundsatz im Judentum, erläutert er. „Im Lehrhaus geht es darum, Informationen über unsere Religion nach draußen zu transportieren, um intellektuelle Befruchtung.“ Andere zu missionieren sei keineswegs das Ziel, betont Gutmark. Das Lehrhaus sei als Ort der Begegnung und des Austauschs zwischen Juden und Nichtjuden konzipiert. Durch Kurse, Workshops und Seminare sei eine Plattform geschaffen worden, um jüdisches Wissen und Traditionen zu vermitteln. „Durch den interkulturellen Dialog fördern wir das Verständnis für die jüdische Gemeinschaft in Wiesbaden, und wir tragen gleichzeitig zu deren Stärkung bei“, sagt Steve Landau, der das Jüdische Lehrhaus in Wiesbaden leitet.
Aktuell hat die jüdische Gemeinde in der Landeshauptstadt 850 Mitglieder. „Wir betreuen aber viel mehr Menschen“, erzählt Landau. Mit dem Caritasverband, der auf der gegenüberliegenden Seite der Friedrichstraße sein Beratungszentrum hat, kümmere man sich etwa um Flüchtlinge aus der Ukraine. Unterstützung gebe es auch für alte, hilfsbedürftige Menschen. „Wir sind eine Einheitsgemeinde und wollen Jüdinnen und Juden aller Strömungen integrieren“, erläutert Jacob Gutmark. Die Gottesdienste in der Synagoge stünden allen offen.
Wurden anfangs vor allem Hebräisch- und Kochkurse, Tanzworkshops oder Feldenkrais-Seminare unter dem Dach des Jüdischen Lehrhauses angeboten, so stehen mittlerweile auch Vorträge zu politischen Themen, Lesungen und Musikveranstaltungen auf dem Programm. Vieles läuft seit der Corona-Pandemie online. Der Zuspruch sei groß, sagt Landau.
Virtuell rekonstruiert
Auf einer Projektseite der Gemeinde findet man einen Onlinerundgang zu Orten jüdischen Lebens in Wiesbaden, eine digitale Führung durch die Synagoge in der Friedrichstraße, die virtuelle Rekonstruktion der ehemaligen Synagoge auf dem Michelsberg und eine Ausstellung zur Nachkriegsgeschichte. Der jüdische Friedhof auf der Schönen Aussicht wird ebenso vorgestellt wie die Gedenkstätte auf dem Michelsberg.
2020 hat die jüdische Gemeinde den städtischen Kulturpreis erhalten. Gutmark und Landau werten das als ein deutliches Signal, „dass unsere Bemühungen um den interkulturellen Dialog gewürdigt werden.“
Weitere Informationen zur jüdischen Gemeinde und zum aktuellen Programm des Lehrhauses unter www.jg-wi.de.