11.08.2023

Warum lässt G’tt das zu? Daniel Neumann darüber, wie der frühere britische Oberrabbiner Jonathan Sacks der Frage aller Fragen im Midrasch nachspürt

Darmstadt

Es ist die Frage aller Fragen. Die ultimative religiöse Frage. Und sie lautet: Warum lässt G’tt das zu? Warum lässt er Leid, Elend und Tragödien zu? Warum lässt er Krankheiten, Katastrophen und Unheil geschehen?

Es ist eine Frage, die das Judentum von Kindesbeinen an begleitet und die in den unterschiedlichsten Worten ausgedrückt wurde. Mal als Frage nach g’ttlicher Gerechtigkeit und mal als Frage nach der Existenz des Bösen.

Für all die Atheisten da draußen stellt sich diese Frage nicht. Denn an wen könnten sie die Frage schon richten? Wen können sie zur Rechenschaft ziehen? Den Zufall, die Evolution, die Natur oder das Universum? Bei gläubigen Menschen sieht es hingegen anders aus. Vor allem bei denen, die an den einen und einzigen G’tt glauben. Denn dieser gilt gemeinhin als gut, gerecht und allmächtig. Wie aber kann er dann Leid zulassen? Wie kann Böses existieren?

Paradoxie Sprich: Wenn es nur einen einzigen G’tt gibt, dann muss dieser logischerweise nicht nur Quelle von Segen und Heil sein, sondern ebenso von Unbill und Leid. Und das scheint unmöglich, zumindest paradox, in jedem Fall aber schwer zu ertragen. Denn wie soll etwas, das durch und durch gut ist, Böses hervorbringen? Wie kann ein guter G’tt Schlechtes bewirken? Irgendetwas kann hier nicht stimmen.

Einige unserer größten Denker meinen deshalb, dass all das, was wir als böse wahrnehmen, in Wirklichkeit nur eine Illusion sei. Dass wir das Gute darin nur nicht erkennen könnten, weil uns das vollständige Bild fehle. Räumlich oder zeitlich. Und wir die g’ttliche Absicht, den Plan, die Prüfung, die Zeichen nicht verstünden. Wir würden oft nur Ausschnitte des Gesamtbildes sehen, was zu falschen Schlüssen führe.

Perspektive Rabbiner Joseph Soloveitchik (1903–1993) hat dies mit jemandem verglichen, der einen Teppich von unten betrachtet. Aus dieser Perspektive sieht alles ungeordnet und chaotisch aus, Fäden sind kreuz und quer geknüpft, und überall hängen lose Enden heraus. Wenn man den Teppich dann allerdings umdreht, erschließt sich das wahre Werk, sieht man das eigentliche Muster, eröffnet sich die Schönheit des Ganzen.

Spätestens in der kommenden Welt würden wir also alles verstehen. In jedem Fall wird dann und dort alles zurechtgerückt; wird ultimative Gerechtigkeit geschaffen. Aber noch ist es nicht so weit. Noch sind wir im Hier und Jetzt. Weshalb es noch viele weitere Erklärungen gibt.

Die wohl ehrlichste Antwort auf die ultimative Frage bietet das Buch Hiob, in dem der Protagonist den Ewigen nach einer erbarmungslosen Abfolge von Schicksalsschlägen schließlich zur Rede stellt und Ihn nach dem »Warum« fragt. Was G’tt mit einer Kaskade von Gegenfragen beantwortet. Das Ergebnis ist die einleuchtende wie bedrückende Erkenntnis, dass wir Menschen G’tt nie vollständig begreifen können.

Unser Wissen wird immer beschränkt bleiben. Und wir werden das Rätsel seines Wesens und seines Wirkens nie vollständig lösen können. Oder wie Rabbiner Joseph Albo es ausgedrückte: »Wenn ich Ihn verstehen würde, wäre ich Er.« Eine Einsicht, die so logisch wie deprimierend ist.

Auslegung Eine andere Richtung schlägt der frühere britische Oberrabbiner Jonathan Sacks (1948–2020) ein. Er greift in seiner »Faith-Lecture« auf einen Midrasch, also eine rabbinische Auslegung, zurück, welche die erste epochale Begegnung zwischen Awraham und G’tt beschreibt.

Dort heißt es: »Der Herr sprach zu Awram: ›Verlass dein Land, deinen Geburtsort und das Haus deines Vaters …‹ Womit lässt sich das vergleichen? Mit einem Mann, der von Ort zu Ort reiste, als er einen Palast in Flammen sah. Er wunderte sich: ›Ist es möglich, dass der Palast keinen Besitzer hat?‹ Der Besitzer des Palastes schaute heraus und sagte: ›Ich bin der Besitzer des Palastes.‹ Da sagte Awraham: ›Ist es möglich, dass der Welt ein Herrscher fehlt?‹ Der Heilige, gepriesen sei Er, schaute hinaus und sagte zu ihm: ›Ich bin der Herrscher des Universums.‹« (Midrasch Bereschit Rabba 39). Soweit der Midrasch.

Doch wie kann das sein? Wie kann der Palast des Ewigen, wie kann die Welt, in Flammen stehen? Wieso löscht Er sie nicht? Weil – so Rabbiner Sacks – der Ewige den Menschen in diesem Moment aufruft, Ihm dabei zu helfen, die Flammen zu löschen. Weil Er ihn an seiner Seite will, um eine unvollkommene Welt zu reparieren.

Dilemma Dies ergebe sich aus einem Dilemma, wie Rabbiner Sacks meint. Entweder gibt es keinen G’tt. Dann ist alles ein Zusammenspiel aus Zufall und Notwendigkeit. Und die sind unerbittlich und blind. Das heißt: Es gibt keine Gerechtigkeit, weil es keinen Richter gibt. Es gibt keinen Palast, keinen Herrscher und keine Fragen.

Oder der Ewige existiert. Dann ist und geschieht alles, weil Er es will. In diesem Fall muss alle Ungerechtigkeit eine Illusion sein. Wir denken, es sei böse, weil wir es nicht wirklich verstehen. Alles Böse ist das verkleidete Gute. Das Leiden hat einen Sinn. Wenn wir die Dinge nur aus der Perspektive G’ttes sehen könnten, gäbe es keine Fragen, denn alles, was von G’tt kommt, ist gut. Der Palast existiert, doch es gibt keine Flammen. Es brennt in Wirklichkeit nicht.

Das heißt: Entweder gibt es G’tt, dann gibt es kein Böses und kein Leid. Oder es gibt das Böse, dann gibt es keinen G’tt. Doch was, so Rabbiner Sacks, wenn es beides gibt? Angenommen, es gibt sowohl G’tt als auch das Böse? Angenommen, der Palast existiert ebenso wie die Flammen? Was dann?

Genau hier liegt Rabbiner Sacks zufolge die Geburtsstunde des Judentums. Genau in diesem Spannungsverhältnis. In diesem scheinbar ausweglosen Konflikt. In dieser kognitiven Dissonanz. Das Judentum beginne nicht dort, wo Glaube üblicherweise beginnt, nämlich im Staunen darüber, dass die Welt ist. Sondern das Judentum beginne im Gegenteil, nämlich im Protest gegen eine Welt, die nicht so ist, wie sie sein sollte, in dem Aufschrei gegen das Böse, die Ungerechtigkeit und das Leid in dieser Welt.

Diese Spannung trieb Awraham an, als er G’ttes Gerechtigkeit infrage stellte. Sie trieb Mosche an, als er G’tt herausforderte und ihm beinahe die Gefolgschaft kündigte. Und sie trieb Jirmejahu an, als er den Ewigen anklagte. Sie ist der Kern des Namens »Israel«, was übersetzt bedeutet: »Der mit G’tt ringt«. Denn es ist ein ewiges Ringen mit dem Ewigen und der unvollkommenen Welt, die Er geschaffen hat. Ein Drama zwischen Schöpfer, Schöpfung und Geschöpf.

Energiequelle Gleichzeitig entsteht durch diese unaufhörliche Spannung eine dauernde Energiequelle. Denn der offenkundige Widerspruch kann nicht im intellektuellen Elfenbeinturm gelöst werden. Weder von Theologen noch von Philosophen. Nein, er kann überhaupt nicht auf der Ebene des Denkens aufgelöst werden. Sondern nur auf der Ebene des Tuns. Durch das Handeln. Durch Aktion.

Was Rabbiner Sacks damit sagen will, ist Folgendes: Die einzige Möglichkeit, den Widerspruch zwischen der Welt, wie sie sein sollte, und der Welt, wie sie ist, zu lösen, besteht im Handeln.

Die einzige Möglichkeit, die Spannung aufzulösen, besteht darin, Katastrophen zu verhindern, Krankheiten zu bekämpfen und Leid zu lindern. Hilfe zu leisten, Hände zu reichen und Trost zu spenden. In dem Vertrauen darauf, dass G’tt uns dabei zur Seite steht. Und in dem Glauben, dass G’tt an uns glaubt.

Schicksal Wir werden vielleicht nie ganz verstehen, weshalb der Palast in Flammen steht. Warum die Welt brennt. Aber wir können verstehen, was nötig ist, um die Flammen zu bekämpfen. Und genau deshalb darf es auf die Frage aller Fragen auch keine endgültige Antwort geben. Denn eine befriedigende Antwort würde zur Akzeptanz von Leid, Elend und Not führen. Würde uns besänftigen, beschwichtigen und zur Ruhe kommen lassen. Sie würde die Spannung auflösen.

Und das ist das Letzte, was diese Welt gebrauchen kann.

Der Autor ist Direktor des Landesverbandes der Jüdischen Gemeinden in Hessen.

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