11.10.2023

Daniel Neumann: „Das Schöne an der jüdischen Kultur ist, dass sie uferlos ist.“

Darmstadt

Um mit Daniel Neumann über die noch bis Anfang Dezember laufenden Jüdischen Kulturwochen in Darmstadt zu sprechen, müssen wir in einem kleinen Unterrichtszimmer Platz nehmen.

Sein Büro sei wegen Umbaus derzeit nicht zugänglich, entschuldigt sich der 49 Jahre alte Direktor des Landesverbandes der Jüdischen Gemeinden in Hessen und Vorsitzender der Jüdischen Gemeinde in Darmstadt. Auch am Eingang der Darmstädter Synagoge in der Wilhelm-Glässing-Straße baumeln noch einige Kabel von der Decke. In Reaktion auf die antisemitischen Anschläge in Halle, das vereitelte Sprengstoffattentat auf die Synagoge in Hagen und den rassistischen Anschlag in Hanau hat die Gemeinde mithilfe des Landes Hessen erhebliche Investitionen in die Sicherheit getätigt – und unter anderem schusssichere Türen und Fenster einbauen lassen.

Herr Neumann, haben Sie Lust, mit mir über Antisemitismus zu sprechen?

Daniel Neumann [lacht laut und lange]: Ich kann mir Schöneres vorstellen.

Ich mir auch. Aber wir müssen es machen, oder?

Daniel Neumann [ernst]: Es gehört wahrscheinlich dazu, wenn man über jüdisches Leben in Deutschland spricht.

Dann sprechen wir aus aktuellem Anlass also über die Flugblatt-Affäre von Hubert Aiwanger (Freie Wähler). Ist der Fall für sie abgehakt, so wie der Ministerpräsident Bayerns Markus Söder (CSU) und sein Stellvertreter Aiwanger das gerne hätten?

Abgehakt insofern nicht, als Aiwanger sich erstens bisher noch nicht anständig entschuldigt hat und überhaupt nicht klar gemacht hat, wofür er sich eigentlich entschuldigt. Also ist die Entschuldigung auch nicht ernst zu nehmen. Zweitens fantasiert er eine Opfer-Mentalität herbei. Er imaginiert eine Kampagne der Medien und behauptet, er solle niedergeschrieben werden. Das halte ich für Unsinn, weil das Verschwörungsmythen aktiviert, die völlig fehl am Platz sind. Fakt ist: Er hat sich in jedem Fall ein Fehlverhalten anzulasten, ob wegen des Flugblatts oder weil er Hitler-Grüße gezeigt oder Juden-Witze erzählt hat. Da muss er als stellvertretender Ministerpräsident eben auch anständig damit umgehen.

Am Ende geht es also weniger um sein jugendliches Verhalten als um seinen heute noch fehlenden Anstand?

Hätte er gesagt: Das war in meiner Jugend, das ist 35 Jahre her und damals habe ich anders getickt, habe Dummheiten gemacht. Wenn er gesagt hätte, jetzt im Rückblick würde ich so etwas nie wieder machen. Es tut mir leid, das war einfach idiotisch, dann wäre das Thema durch. Nach allem, was wir wissen, hat er sich in den letzten 35 Jahren, also seit Ende seiner Schulzeit, nicht als ausgemachter Antisemit zu erkennen gegeben. Insofern würde man ihm wahrscheinlich tatsächlich abnehmen, dass es sich um Jugendsünden handelt.

Die meisten Menschen, die sich judenfeindlich äußern, sehen sich wohl nicht selbst als Antisemit. Was sind typische Fehler im Verhalten, die Sie beleidigen und vor den Kopf stoßen?

Es geht ja nicht nur um Fehler. Es geht auch nicht nur um die eigene Sicht der Dinge. Wenn ich jede Beleidigung immer nur von dem abhängig mache, dem gegenüber sie geäußert wird, dann wird die ganze Sache arg subjektiv. Der Antisemitismus ist ein Phänomen, das lang und ausgiebig genug erforscht wurde, um sagen zu können, dass man es mit objektiv überprüfbaren Kriterien zu tun hat. Viel leichter als an Juden lässt sich das an Israel ausmachen. Da gibt es ganz klare Kriterien, wann wir es bei sogenannter „Israelkritik“ in Wahrheit mit Antisemitismus zu tun haben: Wenn Israel dämonisiert oder delegitimiert wird oder wenn doppelte Standards angewendet werden, dann reden wir über Antisemitismus und keine legitime Kritik.

Und wenn es persönlich wird?

Wenn es um einzelne Menschen geht, dann sind es häufig die klassischen Stereotype und Vorurteile, die oftmals christlich geprägt waren, die also schon im Mittelalter herhalten mussten und die sich häufig in Verschwörungsmythen aller Art finden. Das heißt, früher waren wir Brunnenvergifter, früher haben wir Hostien geschändet, früher haben wir Krankheiten verbreitet, früher waren wir mit dem Teufel im Bunde oder waren Gottesmörder. Und im übertragenen Sinne äußert sich das immer noch. Heute sind wir halt diejenigen, die einen Virus in die Welt setzen, um anschließend von der Impfstoff-Produktion zu profitieren, oder heute sind wir diejenigen, die die Weltbank kontrollieren, oder diejenigen, die die Medien dominieren oder Ähnliches. Gerade im Fall Aiwanger ist es genau dieser gefährliche Mechanismus, der jetzt auftaucht, in dem Aiwanger sich zum Opfer macht und gleichzeitig sagt, die Medien sind schuld dran.

Ist das nicht erst mal nur Pressefeindlichkeit?

Wenn man ein Stück weiterdenkt, stellt sich die Frage, wer denn hinter den Medien steht. Und schon sind wir wieder beim Verschwörungsmythos über die Juden, die an den Schalthebeln der Macht sitzen, angekommen. Das sind so die dramatischeren Fälle, die sich auch während der Corona-Pandemie offenbart haben, indem eben diese alten Verschwörungsideologien wieder ausgepackt wurden. Daneben gibt es klassische Stereotype: dass Juden reicher sein sollen als andere Menschen, weil sie besonders gut im Umgang mit Geld sein sollen. Dass Juden besonders klug sein sollen. Das hat ja Sarrazin in seinem damaligen schrecklichen Buch versucht nachzuweisen. Und ich kann ihnen als langjähriges Mitglied der jüdischen Community sagen: Es stimmt definitiv nicht. Bei uns gibt es genauso viele Idioten und Hohlköpfe, wie anderswo auch. Ich wäre dankbar, wenn es anders wäre.

Möchten Sie da ein paar konkrete Beispiele nennen?

[lacht] Da könnte ich nicht mehr aufhören mit dem Benennen.

Dann lassen sie uns das Thema abschließen mit der Frage, wie ich im Alltag Solidarität zeigen kann. Für die queere Community gibt es das Regenbogen-Motiv, das auch viele nicht queere Menschen tragen, um zu zeigen, wo sie stehen. Gibt es so etwas auch für die Jüdische Gemeinde?

Also ich glaube, Solidaritätssymbole sind schwer herauszugreifen. Das geht dann eher tatsächlich darüber, dass man bei Demonstrationen Flagge zeigt. Viel wichtiger ist aber aus meiner Sicht eigentlich, dass man im Alltag einfach ein bisschen sensibler wird im Umgang mit anderen Menschen, die Stereotypen aufgreifen oder artikulieren. Dass man also da Flagge zeigt, und zwar gar nicht gegenüber der jüdischen Gemeinschaft, sondern indem man im gesellschaftlichen Umfeld den Leuten die rote Karte zeigt, die diese Grenzen überschreiten. Dass man den Kopf einschaltet, kritisches Denken befördert und in den richtigen Momenten sagt: Das war jetzt komplett daneben! Hätte zum Beispiel im Falle Aiwangers damals seine Klassenkameraden gesagt: Hör mal zu Hubert, damit überspannst Du den Bogen einfach. Lass das mal sein, das geht so nicht. Das ist auch nicht mehr witzig. Jetzt ist es genug! Dann wäre das eine ordentliche Reaktion gewesen. Das halte ich jedenfalls für viel wichtiger als Liebesbekundungen gegenüber der jüdischen Gemeinschaft.

Die meisten Menschen in Deutschland haben ja auch überhaupt gar keinen persönlichen Kontakt mit Juden.

Wir sind wenige. Die Juden sind ein kleines, aber lautes Volk. Aber es ist vor allen Dingen auch so, dass der Antisemitismus eine zutiefst antidemokratische, antiliberale und antirechtsstaatliche Haltung ist, die eigentlich über Juden hinaus die Gesellschaft als solche betrifft. Gerade diese Stereotype, diese Brandmarkung von bestimmten Gruppen, diese Sündenbock-Strategien, diese Verantwortungsabwehr und das Ausgucken eines anderen für die eigenen Fehler, oder auch diese Verschwörungsmythen, die halt irgendwo immer dunkle Mächte am Werk sehen, wenn irgendwas nicht so läuft, wie ich mir das in meinem Leben wünsche – das sind Mechanismen, die gesellschaftlich katastrophal wirken und nicht nur gegenüber Juden. Die sind bei Bedarf auch übertragbar auf andere Gruppen oder auf andere gesellschaftliche oder staatliche Mechanismen.

Wie kann ich Kontakt finden und die jüdische Kultur kennenlernen hier in Darmstadt, auch außerhalb der Jüdischen Kulturwochen?

Die Jüdische Gemeinde entfaltet das ganze Jahr Aktivitäten. Das sind natürlich überwiegend religiöse Aktivitäten: Gottesdienste, jüdische Feste et cetera. Es gibt aber genauso Konzerte oder Diskussionsveranstaltungen, die auch für die Öffentlichkeit zugänglich sind, die auch beworben werden. Das Problem war in der Vergangenheit immer wieder, dass Menschen das Gefühl hatten, die Jüdische Gemeinde wäre unzugänglich. Das liegt unter anderem an den Sicherheitsvorkehrungen, die wir aufgrund der Vorgaben der Sicherheitsbehörden eben notwendigerweise umgesetzt haben. Die führen dazu, dass die Leute das Gefühl haben, wir wären irgendwie abgeschirmt und eingeigelt. Das ist allerdings nicht selbst gewählt und macht auch keinen Spaß, aber es ist aufgrund der Sicherheitseinschätzungen der Behörden notwendig. Deshalb bieten wir Jüdische Kulturwochen an, gehen aus der Jüdischen Gemeinde heraus und in die Stadt, um den Leuten das Ganze sozusagen barrierefrei zu liefern. Wir wollen deutlich machen, dass Juden wie alle anderen Menschen sind. Die sind genauso klug und dumm. Es gibt bei uns Reiche und Arme, es gibt Kommunisten wie Kapitalisten, es gibt Anarchisten wie alles andere – genauso bunt, vielleicht sogar noch ein bisschen bunter als andere auch. Wir wollen deutlich machen, dass wir keine Sekte sind, kein Geheimwissen haben und keine Verschwörer sind, die nur unter sich konspirieren, um der Welt zu schaden, sondern dass wir mit ganz anderen Themen beschäftigt sind, die die meisten anderen Menschen auch beschäftigen.

Was hat die jüdische Kultur zu bieten? Was lässt sich von Ihnen lernen oder gewinnen?

Das Schöne an der jüdischen Kultur ist, dass sie uferlos ist. Dadurch, dass Juden zusammengesetzt sind aus allen möglichen Nationalitäten, aus den unterschiedlichsten Kulturkreisen. Dass es bei uns nicht nur eine alte weiße männliche Gruppe gibt, sondern genauso Schwarze, genauso Menschen aus dem Nahen Osten, aus dem Orient. Wir sind so bunt wie die Friedenstruppen der UN. Es gibt nicht „die“ jüdische Kultur. Es gibt neben dem gefüllten Fisch oder Tscholent zwei klassische jüdische Speisen, die wir aus dem osteuropäischen Raum kennen, auch noch eine ganze Menge von Speisen, die aus dem Orient kommen: Über Falafel streiten wir ständig mit den Arabern, wer es zuerst erfunden hat. Aber das ist eigentlich egal, denn es schmeckt fantastisch.

Die Christen in Jerusalem würden da wohl auch mitreden wollen.

Das Copyright auf Falafel ist uns ehrlich gesagt egal. Ich glaube, die besten Falafel im Moment macht ein Palästinenser im „Obendrüber“ im Henschel. Die sind großartig und wenn man sich darauf verständigen kann, dann ist schon viel gewonnen. Die Jüdischen Kulturwochen in Darmstadt wollen diese ganze Bandbreite mal deutlich machen. Das geht natürlich in einem Jahr nicht, deshalb laufen sie jetzt inzwischen schon im sechsten Jahr. Wir haben immer wieder was Neues im Programm: Israelische Musiker und Musiker aus der ehemaligen Sowjetunion, weil wir eine sehr starke Zuwanderung aus der ehemaligen Sowjetunion hatten nach deren Zusammenbruch Ende der 80er. Wir haben Schriftsteller und Künstler. Und wir haben Witzeerzähler, manchmal sind es Rabbiner, diesmal haben wir jüdische Stand-up-Comedy.

Was macht jüdischen Humor aus?

Daniel Neumann [lacht]: Gehen Sie hin, gucken Sie es sich an, bilden Sie sich ein Urteil! Er ist in aller Regel sehr scharf Er bezieht sich aber sehr oft auch auf die eigene Situation. Wir machen uns sehr oft über uns selbst lustig. Wenn man so eine Geschichte hat mit so viel Leid, Vertreibung und Ärger, dann geht es oft nicht anders als mit einer gewissen Gelassenheit an die Themen ranzugehen und auch über sich selbst zu lachen so wie über die Situation, in der man sich wiederfindet. Jüdischer Humor ist selten fremdverletzend, sondern reflektiert vor allem auf sich selbst. Wir lachen über unsere Rabbiner, aber auch über die gruselige Situation, in der man sich oft befindet. Es gibt viele Witze, bei denen man versucht, den Antisemitismus irgendwie auf die Schippe oder auf die leichte Schulter zu nehmen. Das ist, glaube ich, eine besondere Form jüdischen Humors.

Warum können Sie zum Laubhüttenfest am 4. Oktober nur eine begrenzte Zahl von 40 Menschen in die Wilhelm-Glässing-Straße einladen?

Das liegt einfach daran, dass die Laubhütte selbst nicht mehr Leute fassen kann.

Und was genau wird da eigentlich gefeiert?

Es ist auf der einen Seite so eine Art Erntedankfest. Die Laubhütte wird geschmückt mit frischen Zweigen und Früchten, die Haptik, Geruch und Optik des Landes Israel nahe bringen sollen. Auf der anderen Seite spielt es an auf die Wüstenwanderung, in der sich die Israeliten über 40 Jahre in einer Unstetheit befunden haben und ohne richtiges Dach über dem Kopf in unbeständigen Hütten lebten, die immer wieder kurzfristig aufgebaut und im nächsten Moment wieder abgebaut wurden, weil man weiterreisen musste. Die Laubhütte ist in der Regel kein beständiger Bau. Sie ist durch ihr Dach, das aus Blättern besteht, und durch das man immer in den Himmel schauen können muss, ein Symbol für die Vergänglichkeit des Materiellen. Man soll sich klarmachen: Wenn ich alles verliere, bleibt immer noch irgendwas übrig. Das Materielle kann eigentlich nur vorübergehend Schutz bieten. Und deshalb sollte man sich nicht zu fest und zu eng an materielle Dinge binden. Das, was uns wirklich bindet, das was uns trägt, ist natürlich aus religiöser Sicht nicht nur Gott, sondern es ist die Gemeinschaft. Wir sitzen in der Laubhütte zusammen, feiern zusammen. Wir singen zusammen, wir essen zusammen und es gibt im Zusammenhang mit diesem Fest ein religiöses Gebot, sich zu freuen, also glücklich zu sein. Ob sie es wollen oder nicht, sie müssen da rein. Sie müssen mit Menschen zusammenkommen und sie müssen fröhlich sein, sie müssen glücklich sein. Und das Faszinierende ist: Es funktioniert. Lachen steckt an, Singen steckt an, gutes Essen macht glücklich.

 Das heißt, die Laubhütte stellt unser Gefühl der Sicherheit infrage und zeigt auf, dass dieses nur ein fragiles Konstrukt ist?

Unsere Laubhütte steht tatsächlich fest, weil wir sie nicht jedes Mal wieder aufbauen können. Da brauchen wir eine gewisse Stabilität. Aber eigentlich muss sie fragil sein. Eigentlich muss sie jedes Jahr neu auf- und abgebaut werden, und eigentlich darf sie eben auch nicht im Boden verankert sein, sodass sie im Prinzip auch den Naturgewalten ein Stück weit ausgesetzt ist – mit dem Risiko, dass sie kollabieren kann im schlimmsten Fall.

Sie sind da also gar nicht so streng mit Ihren Regeln?

Wir sind pragmatisch.

Zum Abschluss noch eine Frage zur Lokalpolitik: Darmstadts neuer Oberbürgermeister Hanno Benz (SPD) gilt als sehr engagiert in der Unterstützung der Jüdischen Gemeinde. Hat Ihnen seine Wahl etwas bedeutet?

Absolut. Die politische Unterstützung ist enorm wichtig. Gerade in Zeiten, in denen man merkt, dass die gesellschaftliche Solidarität oder die gesellschaftliche Unterstützung gar nicht so groß ist, wie wir uns das manchmal wünschen. Man erlebt nicht selten gesellschaftlich eine gewisse Apathie oder eine gewisse Gleichgültigkeit, was solche Themen angeht. Es gibt ja auch noch andere Probleme, mit denen man sich auseinanderzusetzen hat: Rassismus, Fremdenfeindlichkeit, Queerfeindlichkeit …

… und Klimawandel.

„Um die Juden haben wir uns gekümmert.“ Jetzt wendet sich die Herde sozusagen ab. Das merken wir schon in den letzten mindestens zehn Jahren, dass obwohl die Beleidigungen, Angriffe, Übergriffe immer dramatischer werden und sich die Gesellschaft gleichzeitig immer weniger dafür interessiert. Deshalb ist die politische und die mediale Aufmerksamkeit umso wichtiger. Ein Oberbürgermeister wie Hanno Benz, der allein schon aus Familientradition ein sehr großes Engagement gegen Rechtspopulismus und Rechtsextremismus einerseits und für jüdisches Leben andererseits mitbringt, ist für uns alle ein großer Gewinn. Wobei man natürlich sagen muss: Jochen Partsch war da auch großartig. Da steht Hanno Benz in einer guten Darmstädter Tradition.

Herr Neumann, vielen Dank für das erhellende, lebendige Gespräch.

Heute ist der

21. Kislev 5785 - 22. Dezember 2024