23.10.2023

Interview zum Krieg in Israel: „Jeder Jude auf der Welt fühlt sich getroffen“

Kassel

Miki Lazar von der Jüdischen Gemeinde bangt um seine Verwandten in Israel. Hier erklärt er, warum der Terror der Hamas in einer Hinsicht noch schlimmer ist als 9/11.

Auch gestern musste die Kasseler Synagoge in der Bremer Straße von Polizisten bewacht werden. Über Antisemitismus und den Krieg im Nahen Osten sprachen wir mit Miki Lazar von der Jüdischen Gemeinde.

Wie geht es Ihren Verwandten und Freunden in Israel?

Nicht gut. Alle müssen mehrmals am Tag in den Schutzraum gehen. Meine Schwester, die in der Nähe von Tel Aviv lebt, postete gerade auf Facebook, sie habe pausenlos Angst, dass irgendjemand in der Nähe sein könnte. Es sind ja Tausende Hamas-Terroristen aus Gaza durch den Zaun gekommen. Bislang ist nicht klar, ob sie alle gefasst wurden. Man hat Angst vor jedem Geräusch. Und jeder kennt jemanden, der jemanden verloren hat. Man kann nur weinen. Und ich habe sehr oft geweint in den vergangenen Tagen. Die Grausamkeit, mit der das gemacht wurde, ist nicht zu begreifen. Für Israel ist es das schlimmste Massaker.

Der Terrorangriff wird Israels 9/11 genannt.

Man könnte sogar sagen: Es ist noch schlimmer, weil es neben der unfassbaren Grausamkeit beider Verbrechen hier eine zusätzliche Dimension gibt. 9/11 richtete sich gegen die ganze freie Welt. Hier ging es aber ganz gezielt gegen Juden. Jeder Jude auf der Welt fühlt sich getroffen. Gestern war schon der zweite Freitag, an dem die Hamas aufgerufen hat, Juden auf der ganzen Welt zu attackieren.

In Berlin wurden Molotowcocktails in Richtung einer Synagoge geworden. Wie gefährdet fühlen Sie sich gerade?

Es ist nichts Neues, dass jüdische Einrichtungen geschützt werden müssen. Zuletzt wurde mir empfohlen, nicht in die Innenstadt zu gehen, weil es zu Ausschreitungen von Demonstranten hätte kommen können. Trotzdem habe ich keine Angst. Ich stehe zu meiner Haltung und Offenheit und lasse mich nicht einschüchtern. Aber viele Gemeindemitglieder haben Angst.

Wir haben diese Woche den Palästinenser Ahmed Tubail zu Wort kommen lassen. Sie fanden das Interview nicht differenziert genug. Warum?

Ich will mich nicht instrumentalisieren lassen in diesem ewigen Teufelskreis Israeli gegen Palästinenser. Ich habe vollste Empathie für das, was auch er gerade durchmacht. Mich hat nur wütend gemacht, wie unreflektiert er argumentiert hat. Nicht in einem einzigen Satz hat er erklärt, wie grausam der Angriff der Hamas war. Er sagte auch nicht, dass sie eine Terrororganisation ist. Ich war öfter im Gazastreifen, der nun in der Hand eines grausamen Regimes, der Hamas, ist. Für viele ist Israel schuld an allem. Sie rufen: „Free Gaza.“ Es stimmt: Gaza ist das größte Gefängnis, aber der Gefängniswärter ist die Hamas. Die Grausamkeiten ihres Angriffs kannte man bislang nur vom IS. Es gibt Bilder von verbrannten Kindern und aufgeschlitzten Bäuchen. Nach dem Willen der Hamas sollte kein Jude überleben. Ahmed Tubail sollte das anerkennen.

Wir haben neben Kritik viele zustimmende Nachrichten auf das Interview bekommen. Leser bedankten sich, weil sie palästinensische Stimmen vermissen. Überraschen Sie diese Reaktionen?

Nein, überhaupt nicht. Es gibt viele Menschen, die eine Sehnsucht nach den israelischen Reaktionen auf den Angriff haben. Sie sehnen es förmlich herbei, dass Israel im Gazastreifen Menschen tötet, weil sie Israel per se als böse ansehen. Meron Mendel von der Bildungsstätte Anne Frank hat den Angriff der Hamas das israelische Butscha genannt. Nach dem Massaker in der Ukraine war die ganze Welt schockiert. Nach dem Massaker in Israel wurde sofort relativiert. Es ist wichtig, dass differenzierte Stimmen zu Wort kommen – Israelis und auch Palästinenser.

Manche kritisieren, dass es hierzulande keine große Welle der Solidarität mit den Israelis gegeben habe.

Es gibt viel Solidarität. Das tut gut. Der Aufschrei kommt jedoch nur von bestimmten Personen. Viele relativieren sofort. Und jetzt hört man auf Demos propalästinensische Gruppen rufen: „From the river to the sea, Palestine will be free.“ Vom Mittelmeer bis zum Jordan solle Palästina frei sein. Das bedroht das Existenzrecht Israels. Ich würde rufen: „From the river to the sea, everybody will be free.“

Der slowenische Philosoph Slavoj Zizek wurde für seine Rede auf der Frankfurter Buchmesse heftig kritisiert, weil er den Terror der Hamas zwar verurteilte, aber auch an das Leid der Palästinenser erinnerte. Wie fanden Sie die Rede?

Zizek ist ein linker Provokateur. Anders als Hessens Kunstministerin Angela Dorn hätte ich nicht während der Rede den Saal verlassen. Ich hätte zugehört und am Ende auf ihn erwidert. Ich bin selbst ein Linker und habe immer schon viel Empathie für das Leid der Palästinenser im Gazastreifen und im Westjordanland gezeigt. Ich bin nur nicht bereit zu relativieren. Das hat Zizek nicht begriffen. Die schrecklichen Ereignisse sind noch so frisch. Manchmal treffe ich auf Menschen, die zu weinen beginnen, bevor man ein Wort gesagt hat. Es war auch der falsche Zeitpunkt für diese Rede.

Auf Facebook posteten Sie, dass man nicht mehr „Aber“ sagen solle. Was ist an dem Satz falsch: „Ja, der Terror der Hamas ist durch nichts zu rechtfertigen, aber Israel muss bei seiner Verteidigung das Völkerrecht einhalten?“

Ich kenne das „Aber“ in einer anderen Form. Man sagt: „Ich habe nichts gegen Juden, aber…“ Dieser Satz steht seit fünf Jahren im Sara-Nussbaum-Zentrum. Er lässt sich auch auf andere Gruppen beziehen – Flüchtlinge oder Ausländer etwa. Wenn ich diesen Satz höre, steigt in mir die Wut hoch. Dieses „Aber“ zeigt, dass Menschen, die von sich behaupten, keine Antisemiten zu sein, doch Antisemiten sind. Selbstverständlich kann man auf das Völkerrecht verweisen. Allerdings ist es der Hamas egal, ob Zivilisten umkommen. Sie werden als Schutzschilde missbraucht. Ich bedaure alle Palästinenser, die unschuldige Familienmitglieder verlieren und fliehen müssen. Ich bedauere genauso die Israelis, die wegen der Evakuierung des Südens nun Geflüchtete im eigenen Land sind.

Haben Sie noch Hoffnung auf Frieden?

Ich gebe die Hoffnung nicht auf. Zuletzt hat ein Vater, dessen Tochter von der Hamas ermordet wurde, gesagt: „Ich bin froh, dass meine Tochter tot und nicht in den Händen der Hamas ist.“ Das kann man sich nicht vorstellen. In Israel gibt es natürlich eine große Wut und Rachegefühle. Vielleicht ist es das, was die Hamas erreichen wollte. Ich werde meine Menschlichkeit aber nicht aufgeben. Mein Vater, dessen letzte Station Theresienstadt war, hat nicht eine Sekunde seine Menschlichkeit verloren. Zuletzt habe ich mich mit einem palästinensischen Freund unterhalten. Auch er war voller Trauer und sagte: „Miki, ich kann nicht glauben, wie tief wir gesunken sind. Ich hoffe, es wird nicht noch tiefer.“ Ich glaube: Wenn man so tief gesunken ist, geht der einzige Weg nach oben.

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29. Kislev 5785 - 30. Dezember 2024