Jüdisches Leben in Hanau erleben: Großes Interesse am Tag der offenen Tür der Jüdischen Gemeinde
Kurz vor sieben Uhr in der Synagoge der Jüdischen Gemeinde Hanau: Nach und nach füllt sich Stuhl um Stuhl, Reihe um Reihe, und weil mehr und mehr Menschen in das Haus in der Wilhelmstraße strömen, müssen am Ende sogar noch weitere Sitzgelegenheiten herbeigeschafft werden.
„So voll war es hier schon lange nicht mehr – das würde ich mir auch mal für einen Gottesdienst wünschen“, bemerkt mit einem Schmunzeln Oliver Dainow, Geschäftsführer der Jüdischen Gemeinde Hanau, mit Blick auf die mehr als 100 Menschen, die der Einladung zum Tag der offenen Tür gefolgt sind. Längst nicht die erste Veranstaltung ihrer Art, aber zweifellos eine besondere.
Jüdische Gemeinde in Hanau: Zwischen Hamas-Terror und der Arbeit vor Ort
Einen Einblick in jüdisches Leben ermöglichen, über religiöse Gepflogenheiten informieren, mit Andersgläubigen ins Gespräch kommen – all das war auch diesmal die Intention des Tags der offenen Tür der Jüdische Gemeinde Hanau. Und nicht zuletzt die vielen Fragen aus den Reihen der Besucher zeugten von einem regen Interesse eben daran.
Dennoch darf die außergewöhnlich große Resonanz auf die Veranstaltung in diesem Jahr sicher auch als Zeichen der Solidarität der Mehrheitsgesellschaft mit jüdischen Mitmenschen verstanden werden, die sich seit dem Terrorangriff der Hamas auf Israel am 7. Oktober auch in Deutschland verunsichert fühlen. Zwar gibt es laut BKA-Chef Holger Münch aktuell keine Hinweise auf eine konkrete Gefahr für jüdische Einrichtungen, nichtsdestotrotz sprach er jüngst von einer „hohen abstrakten Gefährdungslage“. Die Zahl antisemitischer Vorfälle ist seit dem 7. Oktober in Deutschland zudem merklich gestiegen.
An Tag 44 nach dem Angriff versucht man auch in Hanau, sich nicht einschüchtern zu lassen und einen weitgehend normalen Alltag zu leben. Das gelinge, so Irina Pisarevska, Vorsitzende der hiesigen Jüdischen Gemeinde, ganz gut: „Natürlich haben die Menschen Angst, sind verunsichert. Aber wir kommen trotzdem hier zusammen, feiern Gottesdienste“, berichtet die gebürtige Ukrainerin, die seit fast 30 Jahren in Hanau lebt. „Es ist inzwischen eigentlich wie immer – nur mit mehr Polizei“, sagt Pisarevska. Doch auch sie gibt zu, aus Angst vor Übergriffen derzeit im Dunkeln nicht mehr allein auf die Straße zu gehen.
Geschäftsführer Dainow gibt den Gästen einen Überblick über die Geschichte der Hanauer Gemeinde, deren Wurzeln bis Anfang des 14. Jahrhundert zurückreichen. Mit den Pestpogromen 1349 und den Deportationen der Nazis 1942 wurde jüdisches Leben in Hanau jedoch zweimal ausgelöscht. Während sich in größeren deutschen Städten schon relativ bald nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs wieder Gemeinden gründeten, sollte es in Hanau bis zum Jahr 2005 dauern.
Als Grund nennt Oliver Dainow den in Hanau wie auch insgesamt überschaubaren Anteil jüdischer Menschen in der deutschen Bevölkerung – erst die Zuwanderung nach dem Zerfall der Sowjetunion in den 90er Jahren ließ deren Zahl wieder wachsen und mündete schließlich auch in Hanau in der dritten Gründung einer Jüdischen Gemeinde: Am 17. April 2005 wurde die neue Synagoge in dem damals leerstehenden Haus in der Wilhelmstraße eingeweiht.
Jüdische Gemeinde Hanau zählt etwa 200 Mitglieder
Fast 20 Jahre später beten die inzwischen rund 200 Gemeindemitglieder hier jeden Freitagabend und Samstagmorgen zum Schabbat und an den jüdischen Feiertagen. Und so ein jüdisches Gebet kann schon mal dauern: zweieinhalb bis drei Stunden sind durchaus keine Seltenheit, wie Oliver Dainow erklärt. „Aber unsere Gottesdienste sind relativ interaktiv und es wird viel gesungen, so dass man eigentlich die ganze Zeit gut beschäftigt ist“. Vollzogen wird all das in Hanau nach dem orthodoxen Ritus, deshalb sitzen Männer und Frauen im Gottesdienst voneinander getrennt und das Auto bleibt in der Garage.
Auch auf die heilige Schrift der Juden, die Thora, dürfen die Besucher schließlich einen Blick werfen, während Rabbiner Shimon Großberg mit viel Humor deren Aufbau und Handhabung im Gottesdienst erläutert. Die auf zwei Holzstäbe gewickelte Thorarolle besteht aus handgefertigtem Pergament aus der Haut koscherer Tiere und wird mit einer speziellen Tinte von Hand in hebräischen Buchstaben beschrieben – exakt 304.805 an der Zahl, ohne Punkt und ohne Komma. Ein ganzes Jahr lang dauert das, wie Rabbiner Großberg wissen lässt, und ausgerollt ist die Thora ganze 40 bis 50 Meter lang.
Das erklärt einerseits den Preis von 15.000 Euro aufwärts für ein gebrauchtes Exemplar und andererseits die Vorfreude der Hanauer Gemeinde auf ein zweites Thora-Exemplar, dass im kommenden Jahr seinen Weg in die Synagoge finden soll: Wenn nämlich beim Gottesdienst aus unterschiedlichen Büchern innerhalb der Thora vorgelesen wird, ist das „Umblättern“ ein mitunter sehr zeitaufwendiges Unterfangen, weil eben nicht geblättert sondern gerollt werden muss. Seinen Dank sprach Oliver Dainow daher im Namen seiner Gemeinde der Wallonisch-Niederländischen- und der St.-Elisabeth-Gemeinde aus, die die Neuanschaffung durch eine Spende ermöglicht haben.