Gießen: Burgheim-Medaille für Dow Aviv
Ein bisschen mag es schon überraschen, dass er die Auszeichnung erst jetzt bekommt. Und zugleich passt es zu seiner bescheidenen Art, sofort zu betonen, »dass es genug andere Bürgerinnen und Bürger gibt, die sie genauso verdienen«. Fakt ist: In diesem Jahr würdigt die Stadt Gießen Dow Aviv, den Vorsitzenden der Jüdischen Gemeinde, mit der Hedwig-Burgheim-Medaille. Mit seinem umfangreichen Wirken habe sich der Sohn von Holocaustüberlebenden »in besonderem Maße um die Verständigung und das Verständnis zwischen den Menschen im Sinne Hedwig Burgheims engagiert«, begründet Oberbürgermeister Frank-Tilo Becher die Entscheidung des Magistrats. »Ich fühle mich sehr geehrt, dafür ausgewählt worden zu sein«, sagt Aviv im Gespräch mit dem Anzeiger. Gerade in Zeiten wachsenden Antisemitismus und Israelhasses sehe er die Ehrung einerseits als Bestätigung für seinen Einsatz um Versöhnung und andererseits als Ansporn, in seinen Bemühungen für ein friedliches und freiheitliches Miteinander nicht nachzulassen. Verliehen werden soll die Medaille am 28. August im Alten Schloss - dem Geburtstag der jüdischen Pädagogin, die 1943 von den Nazi-Schergen im KZ Auschwitz ermordet wurde.
Mit Wissen Vorurteile abbauen
Dow Aviv kam 1953 in Jaffa (Israel) zur Welt, betätigte sich bereits in jungen Jahren sportlich und erreichte sogar einen Platz in der israelischen Nationalmannschaft im Rollstuhlbasketball. Trotz des Widerstandes seiner Eltern zog er 1978 nach Deutschland, nahm an der Justus-Liebig-Universität das Studium der Zahnmedizin auf - sein eigentlicher Traum von der Veterinärmedizin erfüllte sich nicht - und war einer der ersten israelischen Studierenden in Gießen.
Von Beginn an war er in der studentischen Gruppe der Jüdischen Gemeinde aktiv und setzte sich für Erinnerungsarbeit zum Holocaust ein. Damals sei das »noch nicht selbstverständlich und auch nicht immer unproblematisch« gewesen, schildert er rückblickend. Zumal ihn seine eigene Erziehung nicht frei von Vorbehalten machte. Dass alle Deutschen Nazis seien, »konnte ich mir aber nicht vorstellen«. Daher suchte Dow Aviv früh den Austausch, etwa mit den Kommilitonen und deren Eltern, stieß bisweilen indes auf Ablehnung. Der Holocaust erwies sich für viele nach wie vor als Tabu. »Dabei ging es mir nicht um Schuldzuweisungen - im Gegenteil. Ich wollte die Hintergründe begreifen, wollte erzählen, was meine Familie und ich erlebt haben, und wollte gleichzeitig die Erfahrungen der Deutschen verstehen lernen. Denn letztlich hilft nur Wissen, Vorurteile abzubauen.«
Die Ziele, zu integrieren, Differenzen fair auszutragen und das Gemeinsame, das Friedensfördernde in den Vordergrund zu rücken, treiben seit jeher über Religionsgrenzen hinweg sein Handeln an. So gab es zum Beispiel vor einem Jahr kein Zögern, um mit Dr. Halit Aydin von der Ditib-Moschee-Gemeinde und Pfarrer Bernd Apel ein Zeichen der Solidarität und des Respekts für den Koran zu setzen, nachdem in Stockholm Rechtsextremisten das Heilige Buch des Islams öffentlich verbrannt hatten.
Als ehrenamtlicher Vorsitzender der von ihm mitbegründeten Jüdischen Gemeinde, in der Gesellschaft für Christlich-Jüdische Zusammenarbeit Gießen-Wetzlar und in der Jüdisch-Islamischen Gesellschaft Gießen tritt Dow Aviv für den Dialog mit Akteuren der Stadt, Vereinen, Kirchen, Schulen und der Zivilgesellschaft ein. Auch dem Runden Tisch gegen Antisemitismus und zur Förderung jüdischen Lebens gehört Aviv an. »Überall wird er für seine besonnene Art und sein hohes persönliches Engagement geschätzt«, unterstreicht auch Frank-Tilo Becher. Besonders in diesen spannungsgeladenen Tagen sei die Verleihung der Hedwig-Burgheim-Medaille an ihn »für uns auch ein Bekenntnis zur so wichtigen Verständigungsarbeit, ohne die kein Frieden möglich ist«.
Eindrücklich seien ihm Avivs Auftritte bei aktuellen Demonstrationen gegen Rechtsextremismus und dem interreligiösen Friedensgebet für die Opfer des Israel-Gaza-Krieges im Dezember auf dem Gießener Weihnachtsmarkt im Gedächtnis geblieben, so der Oberbürgermeister. Dort betete der beteiligte Vertreter aus der Ditib-Gemeinde für die jüdischen Opfer und Dow Aviv »bezog mit ebenso großer Empathie das Mitleiden für die palästinensischen Opfer in Gaza in sein Gebet mit ein«. Vor allem diese »Sprache der Empathie« fehle heute im gereizten politischen Diskurs allzu oft.
Dialogorientierte Perspektive
Als Vorsitzender und »Gesicht der Jüdischen Gemeinde« kümmert er sich um viele Belange des Gemeindelebens, um Verwaltung und Organisation von kulturellen Ereignissen wie jüdischen Festen und Jubiläen mit großer Außenwirkung. In der Gesellschaft für Christlich-Jüdische Zusammenarbeit organisiert er mit den anderen Vorstandsmitgliedern Veranstaltungen mit lokalhistorischem und begegnungsorientiertem Charakter. Er ist Ansprechpartner für Besuchsgruppen und für die Stadt, für Partnerschaftsvereine und für Gäste aus Israel. »Bei interreligiösen Veranstaltungen mit Christen und Juden hat Dow Aviv immer eine aufgeklärte, dialogorientierte jüdische Perspektive vertreten.«
Ferner gelang es Dow Aviv, dass der Nachlass der durch Jossi Stern initiierten Vereinigung der Ehemaligen Gießener und Umgebung nach dessen Tod an das Stadtarchiv übergeben und diese wertvolle Dokumentation so erhalten werden konnte. Neben dem Schüleraustausch der Ricarda-Huch-Schule mit der Eldad Highschool in Netanya, den er von Anfang an unterstützt hat, kommt Dow Aviv bei Anfragen in die Schulen oder lädt Gruppen in die Gemeinde ein. »Jeder ist bei uns willkommen.« Dass umgekehrt die Situation für Jüdinnen und Juden in Deutschland wieder schwieriger respektive bedrohlicher geworden ist, betrübt ihn umso mehr. Vor einigen Jahren habe er noch gedacht, »die Lage hat sich entspannt, wir werden gut akzeptiert«. Zunehmende antisemitische Ressentiments empfindet Dow Aviv deshalb als »Schlag ins Gesicht« - »das hat mich wachgerüttelt und sehr zum Nachdenken gebracht«.