04.06.2024

Weckruf zum Guten

Darmstadt

©  Israelnetz/mh

Das brutale Terrormassaker vom 7. Oktober weckt viele Fragen. Zumindest einen klaren Weckruf findet Daniel Neumann in der Bibel.

Seit dem 7. Oktober 2023 hat sich die Welt für Juden grundlegend geändert. Nicht nur, weil an diesem Tag das schlimmste Massaker an Juden seit der Scho‘ah verübt wurde. Nicht nur, weil die Brutalität und Grausamkeit, mit der die Terroristen der Hamas ihre schändlichen Taten verübten, einem den Atem stocken ließ. Nicht nur, weil das Sicherheitsversprechen, das der Staat Israel seinen Bürgern seit seiner Gründung im Jahr 1948 wiederholt gegeben hat, nicht eingelöst werden konnte. Nicht nur, weil Israel – das Heilige Land – das gleichzeitig auch einen Sehnsuchtsort, einen Zufluchtsort, einen Schutzraum für Juden in aller Welt bieten soll, in Gefahr geriet.

Nicht nur, weil sich die Befürchtungen bestätigen sollten, wonach sich die ohnehin nur spärlich gesäte anfängliche Solidarität mit dem Judenstaat mit wenigen Ausnahmen schnell in sein Gegenteil verkehrte und die biblische Prophezeiung Bileams von dem Volk, das in Einsamkeit leben wird (4. Mose 23,9), wieder einmal Realität zu werden scheint. Noch nicht einmal nur, weil der Alptraum dieses Tages und vor allem die Reaktionen darauf und auf das, was seither geschieht, uns schonungslos vor Augen führen, dass der moralische Kompass der Weltgemeinschaft nicht mehr zu funktionieren scheint. Oder vielleicht auch nur einen weiteren Beleg dafür liefert, dass er noch nie richtig funktioniert hat.

Nein. Nicht nur aus all diesen Gründen, sondern weil etwas klar geworden ist. Glasklar. Obwohl es bei weitem nicht alle Juden so sehen. Und manche ganz und gar nicht sehen zu wollen scheinen. Dabei ist es einer dieser epochalen Momente, der grundlegende Einsichten zutage fördert. Der mühsam konstruierte Kartenhäuser zusammenbrechen lässt. Der Ahnungen zu Gewissheiten werden lässt. Der Wahrheiten, die man lange ignoriert oder verdrängt hat, ins Zentrum unseres Daseins drängen lässt. Und Worte aus den Tiefen der Vergangenheit in unser Bewusstsein katapultiert.

Denn nun ist das Wissen wieder da. Nun haben die Worte aus vermeintlich vergangenen Zeiten ihren rechtmäßigen Platz zurückerobert. Und nun gibt es kein Lavieren mehr. Denn spätestens jetzt ist eines vollkommen klar: „Ihr, die ihr G“tt liebt, hasst das Böse!“ (Psalm 97,10).

Es klingt drastisch. Manichäisch. Archaisch. Aber es ist nichts davon. Stattdessen ist es die Essenz dessen, was uns Juden ausmacht. Oder jedenfalls ausmachen sollte. Denn dieses kurze und doch so elementare Gebot, dieser Aufruf, diese drängende Erwartung will zweierlei: einerseits Klarheit schaffen über das vordringlichste Ziel des G“ttes der Hebräischen Bibel. Also des G“ttes, der einzig, übernatürlich, unendlich, persönlich, heilig und – jetzt kommt es – gut ist!

Denn das oberste Ziel dieses G“ttes, der den Mittelpunkt des ethischen Monotheismus bildet, ist schlicht und einfach, dass der Mensch gut ist. Oder gut wird. Oder zumindest stetig daran arbeitet. Und damit auch gut und anständig mit seinen Mitmenschen umgeht. So schwer das im Einzelfall auch sein mag. Oder wie es der Prophet Micha in 6,8 ausdrückt: „Es ist dir gesagt, Mensch, was gut ist und was ER von dir fordert: Halte dich an das Recht, sei menschlich zu deinen Mitmenschen und wandle demütig mit deinem G“tt!“

Andererseits führt dies zwangsläufig dazu, dass diejenigen, die G“tt und damit das Gute lieben, das Böse hassen müssen. Wobei das Böse nicht als eigene Macht oder Entität gemeint ist, sondern als von Menschen ausgeübte mutwillige und vorsätzliche Grausamkeit.

Es ist die Fratze dieses Bösen, das sich am 7. Oktober in unfassbarer Brutalität offenbarte und damit ein für alle Mal Klarheit schuf. Die G“tt lieben, hassen das Böse! Und das ist mehr als nur eine Feststellung. Es ist eine Botschaft, ein Weckruf und ein Auftrag. Dieser ergeht nicht nur an uns Juden. Er ergeht an uns alle. Jedenfalls an all diejenigen, die G“tt und das Gute lieben.

Daniel Neumann ist Vorsitzender des Landesverbandes der Jüdischen Gemeinden in Hessen.

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