Ilana Katz: „Es ist modern, ein bisschen antisemitisch zu sein“
Ilana Katz erhält in dieser Woche eine besondere Ehrung: Die Vorsitzende der Jüdischen Gemeinde in Kassel und Geschäftsführerin des Sara-Nussbaum-Zentrums wird mit dem Bundesverdienstkreuz ausgezeichnet. Wir sprachen mit der 62-Jährigen darüber sowie über den wachsenden Antisemitismus und die Folgen des 7. Oktober 2023, als die Terror-Organisation Hamas Israel überfiel.
Frau Katz, herzlichen Glückwunsch zum Bundesverdienstkreuz. Was bedeutet Ihnen diese Auszeichnung, gerade in diesen Zeiten?
Das war eine große Überraschung für mich. Ich habe das nicht erwartet. Als ich davon erfuhr, habe ich geweint. In diesen besonderen Zeiten ist der Preis nicht nur für mich wichtig, sondern auch für meine Gemeinde und meine Familie. Für sie ist die Auszeichnung ein Symbol der Sicherheit.
Wie erfährt man von der Auszeichnung?
Per Brief. Am 4. Dezember vergangenen Jahres, dem Geburtstag meines Papas, lag ein ganzer Stapel Briefe auf meinem Schreibtisch. Den einen habe ich erst zuhause aufgemacht. Erst habe ich nicht verstanden, was da steht. Es stand: „Sehr geehrte Frau Katz, der Herr Bundespräsident hat Ihnen das Verdienstkreuz am Bande des Verdienstordens der Bundesrepublik Deutschland verliehen.“ Unterzeichnet war der Brief von Hessens Ministerpräsident Boris Rhein. Es gab dann Gespräche, wann und wo der Preis verliehen wird. Für mich war es wichtig, dass die Auszeichnung in Kassel verliehen wird. Denn alles, was ich mache, mache ich für Kassel. Wir können nicht die ganze Welt ändern, darum machen wir vieles für unsere Stadt.
Kann man Kassel verändern?
Bestimmt, aber wir müssen überlegen, in welche Richtung. In Kassel gibt es viele tolle Sachen, zum Beispiel den Wächterdienst. Jeden Freitag stehen Menschen vor der Synagoge, egal, wie das Wetter ist. So etwas gibt es in keiner anderen deutschen Stadt. Wir stehen dort und diskutieren. Die Initiative kommt aus der Zivilgesellschaft. Wir als Jüdische Gemeinde organisieren nichts. Die Gesellschaft in Kassel ist bunt und unterschiedlich. Das ist gut.
Was sagt es über Deutschland aus, dass es solch einen Wächterdienst in keiner anderen Stadt gibt?
Ich habe viele Kontakte zu den Vorsitzenden von anderen Jüdischen Gemeinden in Deutschland. Alle sind ein bisschen neidisch auf uns, dass man uns gegenüber so offen und zugewandt ist. Denn das ist leider keine Selbstverständlichkeit heutzutage.
Ist das gerade wichtig nach der documenta von vor zwei Jahren, die wegen antisemitischer Kunst in die Kritik geriet?
Ich denke schon, für meinen Geschmack waren einige Kunstwerke antisemitisch. Viele andere Besucher haben sich die Kunst trotzdem angeschaut. Aber das ist okay. Kunst ist Kunst. Jeder kann selbst entscheiden, ob er sich das antun will. Wir haben Kunstfreiheit. Aus meiner Sicht endet die Kunstfreiheit genau da, wo die Ausgrenzung von Menschen anfängt.
Wann hat es angefangen, dass man nicht mehr offen und zugewandt ist gegenüber Jüdischen Gemeinden, wie Sie gesagt haben?
Das hat nicht erst mit dem 7. Oktober 2023 angefangen, sondern viel früher. Eine Zäsur war der Anschlag auf die Synagoge von Halle im Oktober 2019, also vor fünf Jahren. Danach wurden die Sicherheitsmaßnahmen für alle jüdischen Einrichtungen deutlich verstärkt. Unsere Synagoge wurde umgebaut, etwa mit einer Sicherheitsschleuse am Eingang. Im ganzen Land erleben wir Schmierereien. Leute mit Davidstern wurden aus Geschäften geschmissen. Das alles ist deutlich schlechter als noch 1999, als ich nach Deutschland gekommen bin. Die Veränderung ist dramatisch. Es ist modern, ein bisschen antisemitisch zu sein.
Inwiefern merken Sie das im Alltag?
Ich merke das etwa in Kommentaren in sozialen Netzwerken. Meine Tochter, die in Holland studiert, berichtet, wie schwierig die Situation für jüdische und israelische Studierende an den Unis ist. Das ist ein deutliches Warnsignal. Manchmal ruft auch die Polizei an und sagt: „Frau Katz, Sie sollten heute besser nicht Ihr Büro verlassen.“ Man weiß nicht, wie konkret die Bedrohung ist. Lange vor dem 7. Oktober habe ich den Behörden gesagt: „Ich will nicht, dass die Polizei vor der Synagoge steht.“ Die Antwort war: „Frau Katz, wir wissen mehr als Sie.“ Und das stimmt sicherlich.
Werden Sie auch offen angefeindet?
Nicht oft, aber es passiert schon mal, dass jemand in deine Richtung spuckt. Einmal war ich in einem Geschäft, da kam jemand, stellte sich direkt vor mich und sagte: „Ich kenne dich.“ Da weiß man erst mal nicht, ob das gut oder schlecht ist. Im Getränkemarkt hat ein Mann einmal ziemlich laut und aggressiv in meine Richtung gesprochen. Es waren bestimmt zehn Leute im Geschäft, aber niemand hat etwas gemacht. Seitdem gehe ich nicht mehr in den Getränkemarkt – nicht wegen des Mannes, sondern weil kein Mitarbeiter zu dem Mann etwas gesagt hat.
Ihr Name stand auf einer Feindesliste von Rechtsextremisten. Wie groß ist Ihre Angst um Ihr Leben oder das Ihrer Familie?
Ich spüre alle Gefühle, aber kaum Angst. Wir Juden sind Fatalisten. Wir wissen: Da oben ist eine Bibliothek und unsere Bücher sind schon geschrieben. Wenn etwas passieren muss, passiert es. Es ist nicht meine Art, mit Angst zu leben. Ich habe lange in Lettland gelebt. Dort durfte man die Synagoge nicht besuchen und auch nicht seinen Namen sagen. Man wäre beispielsweise aus der Uni geflogen. Damals hatte ich Angst. Was kann ich heute verlieren? Ich glaube, niemand will mich umbringen. Ich habe niemandem etwas Schlechtes getan. Nicht alle sind zufrieden mit dem, was ich sage. Aber das ist Demokratie und Meinungsfreiheit. Für mich ist wichtig, dass meine Kinder in Sicherheit leben. Darum bin ich in Deutschland.
Woher nehmen Sie die Kraft?
Erstens bin ich verantwortlich für viele Menschen. Unsere Gemeinde hat 600 Mitglieder. Wenn ich Angst habe – wo werden sie dann Kraft finden? Ich habe selten Angst. Meine Arbeit in einem Pflegeunternehmen ist auch nicht immer nur positiv. Am Freitag etwa ist eine Frau gestorben. Darum braucht man einen Ausgleich. Ich male sehr gern. Das macht mir Spaß. Gestern haben wir im Wald Pilze gesammelt. Das macht auch Freude – und es gibt Kraft.
Ist Kassel mittlerweile Ihre Heimat?
Die Frage wird mir häufig gestellt. Kassel ist mein Zuhause, obwohl mein Haus in Vellmar steht. Früher war Heimat für mich die Sowjetunion, das hatte auch mit Patriotismus zu tun. Ich komme aus Riga. Dieses Jahr war ich viermal in Riga. Ich bin jedes Mal begeistert. Das ist meine Heimat.
Wie schlimm war der Antisemitismus in Lettland, als Sie dort lebten?
Zu Sowjetzeiten war es total schlimm. Am Holocaust, dem ein Großteil meiner Familie zum Opfer fiel, haben die Letten sehr aktiv teilgenommen. In der Schule konnte man oft etwas gegen Juden hören. In der fünften Klasse hat mich ein Zehntklässler an der Garderobe aufgehängt, weil ich Jüdin bin. Ich habe mich losgemacht und wollte ihn schlagen. Aber er hat sich weggeduckt und ich habe die Wand getroffen. Diese Narbe ist davon (zeigt auf ihre rechte Hand). Antisemitismus war Alltag für uns. Als ich nach Deutschland kam, habe ich nichts dergleichen erlebt, allenfalls versteckt. Es war peinlich, das zu zeigen. Ganz anders als heute.
Warum hat sich das geändert? Inwiefern hängt das auch mit der Migration aus der arabischen Welt zusammen?
Einige Muslime haben sicher den Antisemitismus aus ihren Heimatländern mit nach Deutschland gebracht. 2014 gab es eine Pro-Palästina-Demo in Kassel, auf der gerufen wurde: „Juden ins Gas.“ Das war keine Kritik an der israelischen Politik, sondern offener Antisemitismus. Die Menschen wurden dafür nicht bestraft und haben diese Slogans immer weiter getragen. Wäre man damals dagegen vorgegangen, wäre es heute nicht so schlimm.
Wie blicken Sie nun auf den 7. Oktober?
Ich spüre vor allem Schmerz. Fast jedes Mitglied unserer Gemeinde hat Verwandte in Israel. Fast jedes Mitglied hat eine App wie „Red Alert“ auf dem Handy, die vor Luftangriffen warnt. Sie wissen also, wenn die Raketen dort wieder fliegen. Der Alarm geht pausenlos. Als ganz normaler Mensch, der sich Frieden wünscht, verstehe ich nicht, wieso die verbliebenen Geiseln nicht zurückgegeben werden können. Ich finde schlimm, was auf beiden Seiten passiert. Wenn man sieht, wie viele Menschen sterben – das ist eine Katastrophe.
Wie geht es Ihren Verwandten in Israel angesichts der sich immer weiter zuspitzenden Lage in Nahost?
Ich erzähle Ihnen eine Geschichte, die mich tief getroffen hat. Meine Nichte ist 24 Jahre und war sehr dick. Dann hat sie fast 100 Kilogramm abgenommen. Sie sieht jetzt super aus. Mit ihren Eltern war sie auf einer Kreuzfahrt. Der Kapitän fand sie so schön, dass er sagte, sie müsse bei einer Miss-Wahl auf dem Schiff teilnehmen. Darüber hat sie sich so gefreut. Als sie mir davon erzählte, sagte ich: „Toll, dein Traum wird wahr.“ Am nächsten Tag rief sie mich an und sagte, sie werde doch nicht teilnehmen. Sie hätte sagen müssen, aus welchem Land sie kommt. Auf dem Schiff sind 6000 Menschen. Meine Nichte hatte Angst, dass jemand etwas Böses ruft. Wahrscheinlich war es die richtige Entscheidung, aber ihr Traum wurde zerstört. Ich habe meinen Verwandten in Israel nach dem 7. Oktober auch angeboten, nach Deutschland zu kommen. Aber niemand hat das Angebot angenommen. Sie sagten: „Bei uns ist es sicherer als bei euch. Wir machen uns Sorgen um euch.“
Wir haben über den 7. Oktober gesprochen, über Antisemitismus und den Tod. Was macht Ihnen Hoffnung?
Ich glaube, es gibt mehr gute Menschen als schlechte. Ich bin nicht optimistisch, aber ich glaube, dass wir alle in Frieden leben können. Das macht mir Hoffnung. Mein Mann hat zuletzt allerdings gesagt, dass wir uns vielleicht einen anderen Platz suchen müssen. Ihn kann eigentlich nichts aus der Ruhe bringen, aber das war nach einer Beratung der Polizei.
Es muss schrecklich sein, wenn man sich damit beschäftigen muss, weil man nicht sicher ist. Trotzdem: Wo wäre denn ein anderer Platz für Sie?
Am liebsten will ich weiter in Vellmar leben, wo mein Zuhause ist. Dieses Gefühl, dass wir nicht allein sind, ist sehr wichtig für uns. Wenn es irgendwann anders sein sollte, gehe ich nach Israel. Ich glaube aber, dass alles gut wird. (Florian Hagemann, Matthias Lohr)
(Quelle: hna.de)