„Es gibt für uns faktisch keine Religionsfreiheit“
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Eine jüdische Hochzeit in der Öffentlichkeit zu feiern, ist ohne Sicherheitsmaßnahmen nicht denkbar – seit dem 7. Oktober 2023 schon erst recht nicht. Seit dem Tag des Überfalls von Hamas-Terroristen auf Israelis fühlen sich Juden in Deutschland immer stärker bedroht. Das gelte auch für die Mitglieder der Jüdischen Gemeinde in Wiesbaden, berichten deren Vorstand Jacob Gutmark sowie ihr Geschäftsführer Steve Landau. Von der Stadtgesellschaft fordern sie mehr Solidarität. Und sie sagen, dass sie die Parole „Nie wieder ist jetzt“ mittlerweile nur noch für eine Worthülse halten.
„Juden fliegen kostenlos mit der Lufthansa, zahlen keine Steuern und in Deutschland auch keine Gasrechnung: Das ist eine perfide Aussage mit Bezug auf Auschwitz, die mich wirklich erwischt hat“, berichtet Landau von einem Gespräch mit Wiesbadener Schülern. Die Aussagen, die der Geschäftsführer zu hören bekommt, sind teilweise heftig, seit dem Beginn des Gazakriegs werde es immer schlimmer. Er wundert sich daher auch nicht über die antisemitischen Vorfälle an Wiesbadens Schulen. „Jude sein macht einsam“, sagt Landau, für den Judenhass wie ein Virus ist, das ständig mutiert.
„Bist du Team Palästina oder Team Israel?“, sei die erste Frage eines Jungen aus der sechsten Klasse beim Besuch der Synagoge gewesen, erzählt er weiter. „Da kann man sich ungefähr vorstellen, welchem Druck ein jüdischer Schüler ausgesetzt ist.“ Die Folgen dieser Hetze seien dramatisch. Der Geschäftsführer berichtet von jüdischen Kindern, die sich nicht mehr in ihre Schulen trauen. Und von Studenten, die sich an ihren Hochschulen im Rhein-Main-Gebiet nicht mehr sicher fühlten. Nach den Pro-Israel-Demonstrationen in Wiesbaden seien Teilnehmer mit israelischen Fahnen von der Polizei davor gewarnt worden, diese in der Stadt offen zu tragen.
Gottesdienste nur mit Polizeischutz
„Es gibt für uns faktisch keine Religionsfreiheit. Wir können unser Judentum nicht in Freiheit ausleben“, sagt Landau und verweist auf entsprechende Aussagen des hessischen Antisemitismusbeauftragten Uwe Becker (CDU). In der Stadt sei es anderen Religionen durchaus möglich, öffentlich zu feiern, etwa vor der Kirche oder der Moschee. „Unsere Gottesdienste dagegen können nicht ohne Polizeischutz stattfinden.“
Nach dem Massaker vom 7. Oktober 2023 hatte der Wiesbadener Verein Spiegelbild gemeinsam mit der Jüdischen Gemeinde eine Gedenkveranstaltung organisiert – und die Hälfte der Teilnehmer waren laut Gutmark ohnehin Mitglieder der Gemeinde. Er wünscht sich mehr Solidarität von der Bevölkerung, denn auch in Wiesbaden würden Muslime laut Gutmark den Mord an Juden feiern – wobei dies nicht öffentlich geschehen sei. Landau berichtet von einer Familie, die ihr Kind nur zwei Tage nach dem Terrorangriff der Hamas mit einer umgehängten Palästina-Flagge in die Kita schickte: „Das macht etwas mit einer jüdischen Familie, die ihr Kind ebenfalls in diesen Kindergarten schickt.“
Also gehen Wiesbadens Juden in Deckung. „Wir haben Erfahrung in Unauffälligkeit“, sagt Gutmark und verweist auf die lange Geschichte des Judentums. Die Jüdische Gemeinde verschicke Post an ihre Mitglieder nur noch ohne Absender. „Wenn Sie zerrissene Post erhalten, in die hineingerotzt wurde, dann wählen Sie diesen Weg“, sagt Landau. Beim Herbstgespräch des Verfassungsschutzes habe Hessens Innenminister Roman Poseck (CDU) gesagt, es sei noch nie so schlimm wie jetzt gewesen.
„Aber das haben auch alle seine Vorgänger gesagt, und man gewöhnt sich irgendwann daran“, meint Landau und weist auf eine hohe Dunkelziffer antisemitischer Vorfälle an Wiesbadens Schulen hin. Viele Lehrer würden solche Vorfälle ignorieren oder „wegmoderieren“, was auch ein Zeichen von Hilflosigkeit sei. „Alle sagen, bei uns passiert so etwas doch nicht, aber es passiert“, meint Gutmark. Im Programmkino Caligari haben im vergangenen Jahr Schüler den Holocaust bejubelt. Vor einigen Tagen erklang in der Gutenbergschule ein Nazi-Marschlied, um Unterricht zum Thema Antisemitismus zu stören.
Mit der Palästinaflagge zur Brandmauer-Demo
Die derzeit auch in Wiesbaden stattfindenden Demonstrationen gegen rechts mit Parolen wie „Nie wieder ist jetzt“ sieht Gutmark zum Teil kritisch. Wenn es darum gehe, Solidarität mit Juden zu zeigen, dann sei von diesen Demonstranten kaum jemand zu sehen. Landau wird deutlich: „In Berlin sind die Teilnehmer einer ,Nie wieder ist jetzt‘-Demo stehen geblieben, um eine Pro-Palästina-Demo, deren Teilnehmer Hass auf Israel schürten, passieren zu lassen. Einige haben sogar applaudiert.“ In Wiesbaden rief eine „Free Palestine“-Gruppe dazu auf, mit einer Palästinaflagge zur Brandmauer-Demo Ende Januar zu kommen. Für die beiden Juden ist das Bigotterie. Darum steht für Landau fest: „Der Hashtag ,Nie wieder ist jetzt‘ verkommt zu einer leeren Worthülse.“
Der Krieg im Gazastreifen hat offenbar auch viele linke Gruppen radikalisiert. In einem Instagram-Post der Migrantifa Rhein-Main stand unter der Überschrift „Achtung vor Säurestickern“: „Liebe Freunde, am Schlachthof in Wiesbaden kleben an verschiedenen Stellen zionistische Sticker, die mit Säure versehen wurden. Passt auf Euch auf und sagt es weiter.“
Gutmark sieht Wiesbadens Juden auch aufgrund von Migration in einer „Sandwich-Situation“. Viele der Flüchtlinge kämen aus Ländern, in denen Judenhass weit verbreitet sei – und Gutmark fühlt sich in seiner Sorge bestätigt, wenn er die Slogans mancher Demonstranten hört. „Die schreien auf der Straße nicht ,Nieder mit Israel‘, sondern ,Schlachtet die Juden‘“, berichtet der Siebenundachtzigjährige, der selbst Arabisch spricht.
Er warnt deshalb: „Wir haben ein Problem. Einerseits sind es die Rechtsextremen, andererseits kommen immer mehr Leute ins Land, die offene Antisemiten sind. Ich hoffe, dass wir nicht gefressen werden.“ Laut Landau empfänden viele Juden mittlerweile den Islamismus als die größere Bedrohung. Daher habe er vielen muslimischen Gemeinden in Wiesbaden angeboten, sie zu besuchen und mit ihnen zu sprechen. Doch bis heute habe er keine Antwort auf sein Angebot bekommen.