Eine neue Königin für die Gemeinde

Der Mann mit der schwarzen Kippa, Vollbart und Schläfenlocken greift zu einem Federkiel und einem Fläschchen mit Tinte. Vor ihm liegt eine Pergamentrolle. Den Großteil hat er mit Blättern aus Papier bedeckt, nur wenige in Hebräisch geschriebene Zeilen sind durch das auf diese Weise entstandene Sichtfenster noch zu sehen. Mordechai Tauber wird in ein paar Minuten letzte Hand die neue Thora der Gießener Jüdischen Gemeinde legen. Diese Aufgabe kann nicht irgendwer erledigen, wie Gemeindevorsteher Dow Aviv sagt. Vielmehr bedarf es eines geschulten Schreibers. Tauber ist solch ein Sofer.
Die aus koscherer Tierhaut bestehende Rolle mit den fünf Büchern Mose darf nicht von einer Hand berührt werden, wie Aviv hervorhebt. Deshalb liegt ein silberner Stab als Hilfsmittel bereit, wenn aus der Thora gelesen wird. Zuvor muss der Sofer sie aber fertigstellen. Tauber hält die Feder an die Spitze des Tintenfläschchens und setzt das Werk fort, das ein Kollege in Israel in den vergangenen Monaten fast vollendet hat. Nur 20 Buchstaben bleiben kurz vor Schluss übrig. Jeden dieser Buchstaben widmet die Gemeinde einem Mann oder einer Frau mit besonderen Verdiensten um das jüdische Leben in der Uni-Stadt an der Lahn.
300 Spender gaben 60.000 Euro für Thora
Für jedes einzelne Schriftzeichen gilt das Gleiche wie für alle anderen auf dem Pergament: Der Sofer darf keinen Fehler machen, sonst ist die gesamte Arbeit dahin. „Dann kann er von vorne anfangen“, sagt Aviv. Das aber wäre eine sehr teure Angelegenheit. 65.000 Euro hat die Rolle gekostet. Einschließlich der Nebenkosten sind 75.000 Euro fällig. In diesem Wissen tupft sich Tauber immer wieder Schweißperlen von der hohen Stirn und den Schläfen. Auf dass bloß nichts auf die Rolle tropfe. Die neue Rolle muss her, weil die bisher genutzte nur eine Leihgabe ist und der Besitzer sie zurück will.
Diese Investition hat die etwa 270 Mitglieder zählende Gemeinde nicht allein stemmen können. Nach einem Spendenaufruf haben mehr als 300 Menschen und Institutionen rund 60.000 Euro gegeben, wie der Vorsteher sagt. Und an diesem Sonntagnachmittag wird noch etwas dazukommen für die neue Königin der Gemeinde, wie Aviv die Thora einmal genannt hat. Denn wie eine Monarchin verfügt die Thora über eine schönes Kleid, Schmuck und eine Krone.
An diesem Tag vergleicht er die Zeremonie mit einer Hochzeit. Schließlich trage auch eine Braut ein schönes Kleid und Schmuck, es werde kräftig gefeiert. Eine Einlage der Klezmergruppe mit Gast-Kantor Yonatan Amrani von der Israelitischen Kultusgemeinde Nürnberg am Mikrofon lässt erahnen, wie stimmungsvoll die Prozession zur nah gelegenen Synagoge nach der Vollendung der Thora Alten Schloss geraten wird.
„Mazel tov“ für jeden Buchstaben-Paten
Nach den Vorreden bittet der Vorsteher nach und nach die Buchstaben-Paten auf die Bühne an den Tisch zum Schreiber. Zu ihnen zählen bekannte Menschen wie der ehemalige Ministerpräsident Volker Bouffier (CDU), Schirmherr der Spendenaktion, ebenso wie die Vorsitzende des Partnerschaftsvereins Gießen-Netanya, Marion Balser, welche die Ehrung gerührt aufnimmt, und verdiente Mitglieder der Gemeinde wie Eli Morad. Von Klatschen unterstützte Klezmer-Klänge begleiten jeden Paten zum Sofer und wieder zurück zu ihrem Platz. Jedem Paten wünscht der Schreiber „mazel tov“ mit auf den Weg – seinen herzlichen Glückwunsch.
Als Aviv alle Namen verlesen hat, sind noch drei Buchstaben übrig. Einen erwirbt ein Vertreter der Stadt Wetzlar, dann schlägt eine Frau den langjährigen Vorsitzenden der Gesellschaft für Christ-Jüdische Zusammenarbeit in der Region, Dieter Steil, vor. Ein Raunen geht durch den Saal als Steil sagt, seine Familie spende der Gemeinde 1000 Euro. Eine gute halbe Stunde ist vergangen, da übernimmt Aviv für den letzten Buchstaben selbst die Patenschaft. „Sowas passiert einmal im Leben und ich bin froh, dass ich das hinter mir habe“, sagt er im Rückblick auf die Suche nach einem Sofer in Israel und dem organisatorischen Aufwand, bis die Thora endlich an der Lahn ankam.
Dann ertönt die Klezmer-Klarinette. Es wird geklatscht, gesungen und getanzt. Die Hochzeit kann beginnen. Aviv hält sich während der von der Polizei geschützten Prozession weit hinten. „Die wissen, was zu tun ist“, sagt er über die Gruppe um den Gast-Kantor, welche die mit einem Tuch beschützte Thora laut singend und tänzelnd in die Synagoge hinter dem Stadtkirchenturm bringt. „Das ist nun ein Selbstläufer.“