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16.10.2025

"Die höchste Feierstunde, die eine jüdische Gemeinde erleben kann"

Gießen

© Marc Klug / hr
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© Marc Klug / hr
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Ohne Tora kein jüdischer Gottesdienst: Die Gemeinde in Gießen nutzte bisher eine Leihgabe und hat sich nun erstmals eine eigene Tora angeschafft. Sie wurde feierlich in der Synagoge vollendet - rechtzeitig vor dem Fest der Torafreude.


Sie ist das neue Herzstück der jüdischen Gemeinde in Gießen: die neue Tora. Die 20 Kilogramm schwere Pergamentrolle ist schmuckvoll verziert und auf der einen Seite mit einer Krone versehen. Angefertigt wurde sie in Israel mehrere Monate lang in reiner Handarbeit, Seite für Seite. Das Ergebnis: ein kalligrafisches Kunstwerk.

Die Pergamentrolle kam dann per Flug nach Berlin und von dort in einer langen Taxifahrt nach Gießen. "Das war eine schlaflose Nacht", erinnert sich Gemeindevorsitzender Dow Aviv, "aber zum Glück ist jetzt alles da."
Einweihung pünktlich zum neuen Tora-Zyklus

Der Zeitpunkt könnte kaum passender sein: In dieser Woche (Dienstag und Mittwoch) findet der Feiertag "Simchat Tora", das Freudenfest für die Tora statt. Das heißt, es startet ein neuer Zyklus der Tora-Lesung. Ab dem nächsten Gottesdienst werden die fünf Bücher Mose wieder von Beginn an gelesen.

Die Ankunft der heiligen Pergamentrolle wurde mit einer großen öffentlichen Prozession gefeiert. Rund 200 Menschen zogen am Sonntag jubelnd und tanzend durch die Innenstadt: vom Netanya-Saal im alten Schloss bis hin zur Beith-Jaakov-Synagoge in der Brandgasse.

Die Einführung einer neuen Tora sei "die höchste Feierstunde, die eine jüdische Gemeinde erleben kann", erzählt Gemeindevorsitzender Aviv, "wie bei einer Hochzeit".

Tora wurde in Gießen fertiggestellt

Knapp 270 Mitglieder hat die Gießener Gemeinde. Marina Frankfurt zum Beispiel wohnt hier seit 2007 und kommt seitdem jede Woche in die Synagoge. "Wir sind eine kleine, aber sehr gute Gemeinde. Und diesen Zusammenhalt wollen wir auch nach außen zeigen", erzählt sie. Man fühle sich "wie in einer Mischpoche" (Jiddisch: Familie).

Frankfurt gehört auch zu den wenigen Menschen, denen eine besonders große Ehre zuteil wurde: Sie durfte helfen, die neue Tora zu vollenden. Denn die letzten Zeilen wurden erst in Gießen fertiggeschrieben.

Neben ausgewählten Gemeindemitgliedern durften auch (finanzielle) Unterstützer dabei mitwirken, die letzte Seite der Tora zu beenden. Allen wurde jeweils ein Buchstabe des hebräischen Alphabets gewidmet.
Breite Unterstützung in der Stadt

Die Kosten für die Pergament-Rolle und den Transport, knapp 75.000 Euro, finanzierte die Gemeinde durch Spenden. Beteiligt haben sich unter anderem die Städte Gießen und Wetzlar sowie die evangelische Kirchengemeinde in Gießen.

Die Schirmherrschaft für die neue Tora übernahm Hessens ehemaliger Ministerpräsident Volker Bouffier. Der CDU-Politiker aus Gießen hatte sich seiner Zeit dafür eingesetzt, dass es wieder eine Synagoge in der Stadt gibt.

Auch Bouffier bekam einen Buchstaben ("Schin") gewidmet. Die neue Tora sei nun "die Krönung der Wiedergründung der Gemeinde". Für ihn sei dies sehr bewegend gewesen.

Bisher hat die Gemeinde eine Leihgabe benutzt

Die fünf Bücher Mose sind die wichtigste Schrift im jüdischen Glauben. In jedem Gottesdienst muss aus der Tora gelesen werden, das ist Tradition und Vorschrift zugleich. Bis zuletzt wurde dafür in Gießen eine geliehene Tora genutzt.

Anfang des Jahres forderte der Besitzer die Leihgabe zurück, weil er aus der Region weggezogen sei, berichtet Gemeindevorsitzender Aviv. Nach längerer Überlegung habe die Gemeinde beschlossen, eine eigene Tora anzuschaffen - zum ersten Mal seit der Zerschlagung und Zerstörung der Gemeinde durch die Nationalsozialisten sowie der Neugründung in den 1970er-Jahren.

Strenge Regeln für die Tora

Nicht jede Ausgabe sei aber für den wöchentlichen Gebrauch im Gottesdienst geeignet, so Aviv. "Wir haben noch zwei andere Tora-Rollen im Schrein, die sind aber unbrauchbar und haben zu viele Defekte."

Das heißt: Sobald auch nur ein Buchstabe nicht mehr lesbar sei oder auch Fett- oder Staubflecken auf dem Pergament seien, könne die Tora nicht mehr verwendet werden. Außerdem gelte das Prinzip: nur gucken, nicht anfassen. Im Gottesdienst blättert der Rabbi die Tora deshalb mit einem Lesestock um.

Sorgen im Alltag, Hoffnungen für Israel und Gaza

Die Tora soll laut Aviv auch über Gießen hinaus ein Signal senden: Die Gemeinde habe sie allen Opfern des Hamas-Überfalls und des anschließenden Krieges in Gaza gewidmet.

Auch in Gießen sind die Auswirkungen des Nahost-Konflikts zu sehen: Die Mauer rund um die Synagoge wurde im vergangenen Jahr erhöht. Und auch die Feier anlässlich der neuen Tora war von einer größeren Polizeipräsenz begleitet.

"Auch an so einem Tag der Freude müssen wir daran erinnern, dass wir alles dafür tun müssen, damit jüdische Menschen in unserem Land wieder ohne Angst leben können", betont Bouffier. Das sei die bleibende Aufgabe, so Hessens ehemaliger Ministerpräsident.

Gemeindevorsitzender Aviv kommt selbst aus Israel und ist optimistisch: "Die Zeichen der Zeit, lassen uns hoffen, dass es besser wird. Dass wir es wirklich bald erleben, dass es Ruhe und Frieden in der Welt gibt und keinen Krieg."