21.01.2015

Bedrohung durch Islamisten: „Der große Aufschrei bleibt immer aus“

Darmstadt

Daniel Neumann von der Jüdischen Gemeinde Darmstadt über die Bedrohung durch Islamisten und Gleichgültigkeit.

Mehr Solidarität nach Anschlägen auf jüdische Einrichtungen in Europa fordert Daniel Neumann von der Jüdischen Gemeinde in Darmstadt, der zugleich Direktor des Landesverbandes der Jüdischen Gemeinden in Hessen ist.

ECHO: Herr Neumann, die Pariser Anschläge galten nicht nur „Charlie Hebdo“, sondern auch einem koscheren Supermarkt. Das war nicht das erste antisemitische Attentat in jüngster Zeit. Im März 2012 tötete ein Islamist in einer jüdischen Schule in Toulouse, im Mai 2014 forderte ein Anschlag auf das Jüdische Museum in Brüssel Tote. Fühlen Sie sich auch in Darmstadt bedroht?


Daniel Neumann: Wir beobachten das mit großer Sorge und Trauer. In Panik brechen wir aber nicht aus, denn solche Anschläge wie zuletzt auf den koscheren Supermarkt überraschen uns nicht. Es war nur eine Frage der Zeit, wann wieder etwas passiert. Denn als Jude lebt man ohnehin in einer ständigen Bedrohungssituation.


ECHO: Auch hier, in Südhessen?


Neumann: Natürlich. Fundamentalisten können auch hier zuschlagen. Allerdings ist das derzeit eher eine abstrakte, diffuse Gefahr. Konkrete Drohungen liegen unserer Gemeinde in Darmstadt nicht vor. Unsere Situation ist nicht direkt mit der Situation in Frankreich vergleichbar. Dort erwägen viele Juden ernsthaft eine Ausreise nach Israel.


ECHO: Dennoch ist die Synagoge auch im Jahr 2015 mit hohen Zäunen und Kameraüberwachung geschützt. Findet sich Antisemitismus auch jenseits des Gotteshauses, im Alltag wieder?


Neumann: Wir haben ja das große Glück, dass wir im Alltag nicht als Juden erkennbar sind. Das sage ich nun ein bisschen zynisch, aber das haben wir etwa Farbigen, die sich mit Rassismus konfrontiert sehen, voraus. Auch hier gibt es allerdings eine Reihe von Menschen, die auf das öffentliche Tragen jüdischer Insignien bewusst verzichten, aus Angst vor Anfeindungen.


ECHO: Welche Rolle spielen da die Zerstörung des Denkzeichen Güterbahnhof oder die Schändung von Stolpersteinen etwa in Seeheim-Jugenheim?


Neumann: Das macht mich wütend, aber diese Taten sind nicht geeignet, um uns Angst zu machen.


ECHO: Von wem fühlen Sie sich derzeit am stärksten bedroht?


Neumann: Welche Motivation gewaltbereite Antisemiten antreibt, spielt für uns zunächst keine Rolle. Die Sicherheitsbehörden legen aus historischen Gründen natürlich ein großes Augenmerk auf Rechtsextremismus. Islamismus wurde lange vernachlässigt. Das ändert sich nun hoffentlich.


ECHO: Welche Forderungen leiten Sie von dieser Bedrohung ab? Mehr Polizei vor jüdischen Einrichtungen?


Neumann: Da vertraue ich den Sicherheitsbehörden und deren Expertise, dass sie stets die Maßnahmen ergreifen, mit der sie in der Lage sind, uns angemessen zu schützen. Aber in der Gesellschaft müsste sich etwas tun.


ECHO: Woran denken Sie?


Neumann: Mehr Empathie, aber die kann man ja schlecht verordnen. Denn trotz aller Lippenbekenntnisse an jedem 9. November fehlt eine Solidaritätsbewegung der Mehrheitsgesellschaft. Egal ob nach den Attentaten von Toulouse oder Brüssel: Der große Aufschrei bleibt immer aus. Nach den Terroranschlägen von Paris war jeder Charlie, aber kaum jemand Jude. Auch in Darmstadt sind bei der Gegendemonstration zu den Anti-Israel-Demos im letzten Sommer gerade einmal 150 Menschen gekommen – davon waren zwei Drittel aus unserer Gemeinde. Es gibt starke Signale von der Politik, auch vor Ort von Oberbürgermeister Partsch, aber die finden kaum Niederschlag in der Gesellschaft.

  

Zur Person Daniel Neumann ist seit 2008 Geschäftsführer der Jüdischen Gemeinde in Darmstadt. Sie zählt 700 Mitglieder.

Der 41 Jahre alte Rechtsanwalt ist zudem seit 2006 Direktor des Landesverbandes der Jüdischen Gemeinden in Hessen mit insgesamt 5100 Mitgliedern. Dem Dachverband gehören heute die Gemeinden Darmstadt, Kassel, Wiesbaden, Offenbach, Marburg, Gießen, Fulda, Bad Nauheim, Limburg und Hanau an.

 

(Quelle: http://www.echo-online.de/region/darmstadt/Bedrohung-durch-Islamisten-Der-grosse-Aufschrei-bleibt-immer-aus;art1231,5823432)

(Bildquelle: Echo-Online.de)

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