06.06.2018

Interview mit Manfred de Vries

Bad Nauheim

Manfred de Vries (66) lebt in Neu-Anspach. Während er berufstätig war, gehörte er bereits dem Vorstand der Jüdischen Gemeinde Bad Nauheim an. Seit seiner Pensionierung ist er deren ehrenamtlicher Vorsitzender.

Im Gespräch mit TZ-Mitarbeiter Matthias Pieren spricht De Vries über Erinnerungskultur und jüdisches Leben heute.

Herr de Vries, wie ist Ihre Gefühlslage am heutigen Tag?

MANFRED DE VRIES: Ich freue mich sehr, dass nach Neu-Anspach und Schmitten nun auch in Usingen weitere Stolpersteine an das Schicksal der Juden im Usinger Land erinnern. Nicht nur in den großen Städten, sondern gerade auch in ländlichen Regionen ist während des NS-Regimes mit den Juden eine ganze Gemeinschaft ermordet worden.

Sie haben an dem Ort, an dem heute ein Stolperstein für den am 11.11.1943 in Theresienstadt ermordeten jüdische Mitbürger Bernhard Baum verlegt wurde, ein Gebet gesprochen. Welche Bedeutung hat das Gebet?

DE VRIES: Ich habe die Gelegenheit genutzt, um für die Verstorbenen ein Kaddisch zu sprechen. Es ist wahrscheinlich das erste Mal, dass für ihn ein Trauergebet gesprochen wurde. Es bedeutet, es gibt noch jemanden in Usingen, der sich an diesen längst verstorbenen Mensch erinnert.

Welche Möglichkeiten sehen Sie noch, an die Opfer der Judenverfolgung und des Holocaust zu erinnern?

DE VRIES: Das von Schülern der CWS entworfene Mahnmal, das nun vor dem Usinger Rathaus steht, finde ich ebenso eine gelungene Form, den Opfern des Holocaust zu gedenken, wie die Stolpersteine. Da haben sich auch Schüler mit der deutschen Geschichte auseinandergesetzt und sich Gedanken gemacht. Das finde ich wichtig und gut. Für die Zukunft sollte diese Form der Vergangenheitsbewältigung keine einmalige Angelegenheit sein, sondern ein Bestandteil des Unterrichts für alle zukünftigen 10. Klassen werden.

Es gibt auch Stimmen, die sagen, irgendwann müsste einmal mit dem Gedenken Schluss sein! Was sagen dazu?

DE VRIES: Die meisten Menschen, die heute leben, haben den Holocaust nicht verursacht, nicht mitgemacht und ihn auch nicht zu verantworten. Aber es ist wichtig, dass sie sich daran erinnern. Nur im Gedenken an die Vergangenheit lässt sich Zukunft gestalten.

Wie sieht heute das jüdische Leben im Hochtaunuskreis aus?

DE VRIES: Die Menschen aus dem Vordertaunus gehören zur Jüdischen Gemeinde Frankfurt. Das Usinger Land gehört zur Jüdischen Gemeinde in Bad Nauheim. Doch meine Familie ist die einzige, die dort gemeldet ist. Vielleicht gibt es noch andere jüdische Familien, die aber damit nichts zu tun haben wollen. Das ist nichts anderes als bei Christen, die aus der Kirche austreten oder keiner Kirche angehören. Unsere Gemeinde in Bad Nauheim zählt knapp 300 Mitglieder aus der gesamten Wetterau und dem Usinger Land. Wir sind froh, dass wir in den letzten 7 Jahren unsere Synagoge komplett sanieren konnten und haben auch unsere Mikwe (Ritualbad) vollkommen erneuert. Dieses wird rege genutzt. Ich bin auch stolz darauf, dass zum ersten Mal überhaupt die drei Städte Bad Nauheim, Friedberg und Butzbach ein Projekt gemeinsam finanziert haben. Leider müssen wir aber unsere Gottesdienste stets unter Polizeischutz feiern.

Welche persönliche Motivation haben Sie, sich in der Jüdischen Gemeinde ehrenamtlich zu engagieren?

DE VRIES: Meine Eltern haben Auschwitz und Riga überlebt. Sie haben trotz alledem niemals die Hoffnung aufgegeben, dass auch nach den Verbrechen während des Nazi-Regimes und dem Holocaust ein jüdisches Leben in Deutschland möglich ist. Sie kamen zurück nach Deutschland und haben 1948 die Jüdische Gemeinde Bochum, Herne, Recklinghausen in Recklinghausen mitgegründet. Ich möchte diese Hoffnung weitertragen und mich dafür einsetzen, dass auch heute ein Miteinander der Religionen möglich ist. Deshalb laden wir auch immer Vertreter der muslimischen und der christlichen Gemeinden zu uns ein und wollen miteinander im Gespräch bleiben.

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