Mendel Gurewitz sieht Judenhass junger Muslime als europaweites Phänomen
Für Mendel Gurewitz gehören antisemitische oder antiisraelische Verbal-Attacken fast zum Alltag. Vergangenen Freitag hat der Rabbiner der jüdischen Gemeinde Offenbach nicht weggehört, sondern ist auf eine Gruppe von jungen Pöblern zugegangen: Weil er Beleidigungen wiedererkannte, mit denen ihn vor fünf Jahren halbwüchsige Marokkaner in einem Einkaufszentrum bedacht hatten. Er hat Anzeige erstattet, die Polizei ermittelt.
Meistens fährt der Gemeinderabbiner von der Synagoge mit dem Auto nach Hause. An diesem Freitag aber geht er zu Fuß, und es ergeht ihm wie so oft. An der Ecke Kaiser-/Mainstraße schreien dem an Kleidung, Hut und Bart als orthodox-jüdischer Geistlicher identifizierbaren Offenbacher junge Kerle Beleidigungen und Parolen zu: „Scheiß Jude!“, „Scheiß Israel!“ „Palästina, Gaza!“ und mehr. Die älteren seiner neun Kinder weigerten sich inzwischen schon, mit dem Papa auf die Straße zu gehen, erzählt der Rabbiner traurig.
Gurewitz ist aber keiner, der sich duckt, wenn’s zuviel wird. Diesmal kommt ihm die Zusammenstellung der Rufe sehr bekannt vor, weswegen er sie nicht ignoriert: Fast exakt mit gleichen Schimpfworten ist er vor fünf Jahren im KOMM am Aliceplatz angegangen worden; damals kam es auch zu Gerangel und einem fragwürdigen Einsatz des Sicherheitspersonals.
Verdächtige ermittelt
Also geht er auf das Sextett zu, in dem die beiden Wortführer immer lauter werden. Ein junger Mann ruft ihm zu, man habe es nicht so gemeint, der Ober-Krakeeler aber korrigiert ihn: Doch, er habe es genau so gemeint.
Die vor der Synagoge stationierte Polizei bekommt die Aufregung mit, schaltet sich ein, greift sich die Pöbler und bittet Mendel Gurewitz zur Identifizierung. Diese erleichtert ihm einer der jungen Männer: „Er hat gesagt: Sie kennen mich, ich war auch im KOMM dabei. Ich hätte den nach fünf Jahren kaum wiedererkannt“, erzählt der Rabbiner. Was ihn jetzt erbost: 2013 war es zu einem Gespräch in der Synagoge zwischen Tätern und Opfer gekommen. Die Jugendlichen entschuldigen sich, er war bereit zu Vergebung. „Alles Blablabla.“ Die Staatsanwaltschaft Darmstadt hat nun Ermittlungen gegen zwei 20-Jährige aufgenommen. Es werde geprüft, ob einer der Verdächtigen bereits vor fünf Jahren im Einkaufszentrum dabei war.
Auf seine Wirkungsstätte Offenbach will Rabbi Mendel Gurewitz trotz solcher Vorfälle aber nichts kommen lassen: „Ich liebe diese Stadt. Das kann überall in Deutschland, das kann überall in Europa passieren.“ Die offene Aggression geht nach seiner Beobachtung ausschließlich von jüngeren Menschen aus. Deren Herkunft ist überwiegend der muslimische Kulturkreis. „Ich kann nicht erwarten, dass die Stadt und die Gemeinschaft da entscheidend etwas bewirken können, das muss von den Eltern kommen“, sagt der Rabbi.
Abdelkader Rafoud, der aus Marokko stammende Vorsitzende des städtischen Ausländerbeirats, verurteilt den verbalen Übergriff: „Ich lehne so was kategorisch ab, wir dürfen Konflikte im Ausland nicht hier austragen.“ Gurewitz kenne er als sehr offenen, ganz wunderbaren Menschen, mit dem er auch beim interreligiösen Dialog mit der Stadt eng zusammenarbeite.
Im Internet aufgehetzt
Rafoud hat vor, mit den Eltern der Jugendlichen Kontakt aufzunehmen, generell will er das Thema Antisemitismus und Antiisraelismus auf den Runden Islamischen Tisch bringen. „Die muslimischen Gemeinden sind gefordert, dort soll man nicht nur über Theologie, sondern auch über das Zusammenleben reden.“ Für Abdelkader Rafoud sind die Aggressionen keine mehr, die nur von dummen Jungen ausgehen: „Die werden über Youtube und Facebook aufgehetzt.“ Auch wenn das mit Offenbach nichts zu tun habe, mache es ihn sehr traurig, dass Hass ausgerechnet auch unter Migranten verbreitet sei.
Oberbürgermeister Felix Schwenke (SPD) verurteilt ebenfalls, dass Rabbi Gurewitz erneut Opfer antisemitischer Äußerungen durch Jugendliche geworden ist. Die Haltung der Stadt sei unmissverständlich: „Wir stehen für Weltoffenheit und religiöse Freiheit.“ Leider gebe es immer Menschen, die demokratische Grundwerte nicht teilten oder sich von Hass fehlleiten ließen. „Umso wichtiger ist es, nicht nachzulassen im gesellschaftlichen Kampf gegen Rassismus und religiöse Intoleranz“, erklärt der OB. Wer die hiesigen Werte ablehne und Menschen angreife, sei ein Fall fürs Strafrecht. Ordnungsdezernent Peter Freier (CDU) ergänzt: „Für Menschen, die hier dauerhaft leben möchten, sich aber nicht an Grundregeln wie religiöse Toleranz und Akzeptanz jüdischen Lebens halten, ist in Offenbach kein Platz.“
Die in der Flüchtlingshilfe aktive Offenbacherin Gabriele Türmer fordert mehr Engagement in der gesamten Gesellschaft der Stadt. „Es reicht nicht, wenn immer die üblichen Leute Chanukka oder Iftar mitfeiern“, meint die Juristin. Wirklicher Kontakt finde nicht statt, Unkenntnis und Vorurteile beförderten den Hass, viele junge Muslime setzten die hiesigen Juden mit Israel gleich. „Es geht um ein Aufbrechen aller geistig-kulturellen Biotope“, formuliert die Oberstaatsanwältin.
Und was stellt sich das Opfer der antijüdischen Verbal-Attacken vor, wie dem entgegen gearbeitet werden könnte? Mendel Gurewitz, 1974 in New York geborener, in Frankreich aufgewachsener Rabbiner-Sohn und -Enkel, verrät seinen Traum: „Ein Museum für Kinder, das für Toleranz wirbt, indem es zeigt, was das Judentum ist. Alle Schulklassen sollte es besuchen.“ Den Ort hätte er schon gefunden: Das Offenbacher Capitol wäre als ehemalige Synagoge bestens dafür geeignet.