12.11.2018

Gießener fordern eine lebendige Erinnerungskultur

Gießen

Gerade in Zeiten des erstarkenden Rechtspopulismus muss das Gedenken an die Opfer des Holoaust lebendig sein. Das fordert der Vorsitzende der Jüdischen Gemeinde Gießen.

Brennende Synagogen, zerstörte Geschäfte, Deportationen: Mit einer Stunde der Erinnerung und Mahnung hat der Magistrat gestern der Opfer der sogenannten Reichspogromnacht gedacht. Welche Bedeutung hat dieses Gedenken heute in Zeiten des erstarkenden Rechtspopulismus in Europa? "Es spielt eine sehr große Rolle. Ich selbst bin seit 40 Jahren in Deutschland und hatte nie das Ziel, Schuld zuzuweisen. Vielmehr habe ich immer davon gesprochen, dass eine Verantwortung da sein muss", sagt Dow Aviv, Vorsitzender der Jüdischen Gemeinde Gießen, im Gespräch mit dem Anzeiger.

Antisemitismus

Es ist noch früh am Morgen als einige Personen am 10. November 1938 die Synagoge in der Südanlage in Brand setzen. Das einzige nationalsozialistisch motivierte Verbrechen bleibt das an diesem Tag nicht: Auch das jüdische Gotteshaus in der Steinstraße fällt der Brandstiftung zum Opfer, jüdische Männer werden verhaftet und später ins Konzentrationslager Buchenwald deportiert. "Gerade die Generation, die unmittelbar an den Verbrechen beteiligt war, hatte natürlich eine aktive Verantwortung dafür", erklärt Aviv. Eine Verantwortlichkeit bestehe auch heute noch, allerdings in anderer Form. "Jüngere Menschen müssen heute hellhörig und aufmerksam sein, damit so etwas nie wieder passiert", betont der Vorsitzende.

Zu den Gefahren, mit denen man sich aktuell befassen müsse, zählt Aviv den Antisemitismus. "Es gibt heute nicht mehr Antisemitismus", erläutert er. Allerdings werde er deutlich offener propagiert, was die Gefahr berge, dass Leute etwa aus Unkenntnis mitliefen, obwohl sie eigentlich keine Antisemiten seien. Auch über den Rechtspopulismus in Europa macht sich Aviv "sehr viele Sorgen". Eine Ursache sieht er darin, dass in Teilen Europas seit über 70 Jahren Frieden herrsche, der zu ökonomischem Wachstum geführt habe. Damit verbunden sei aber, dass die Schere zwischen Arm und Reich immer weiter auseinanderklaffe. "Jene, die benachteiligt sind, haben das größte Potenzial für Gefahr bis hin zum Radikalismus, gerade dann, wenn einer kommt, der einfache Lösungen anbietet", so der Gemeindevorsitzende. Um mit diesen Situationen umzugehen, sei die Erinnerung an die Opfer der Verbrechen im nationalsozialistischen Deutschland wichtig. Allerdings plädiert Aviv für ein lebendiges Gedenken, das nicht in ritualisierten Formen erstarren darf. "Denn dann besteht die Gefahr, dass es inhaltsleer wird", denkt Aviv. Sehr bewährt hätten sich dagegen unter anderem Schulprojekte, die eine intensive und mitfühlende Auseinandersetzung ermöglichten.

"Je weiter die Ereignisse zurückliegen und Geschichte sind, desto schwieriger ist die Erinnerung", meint Stadträtin Monika Graulich vom Verein "Gegen Vergessen - Für Demokratie". Die Distanz zu dem Geschehen vergrößere sich, "zum Gedenken reicht es jedoch nicht aus, immer wieder von den Ereignissen zu erzählen." Ihr persönlich gefalle die künstlerische Beschäftigung mit dem Holocaust sehr, da sie Gedankenprozesse und eine intensive Auseinandersetzung beim Betrachter anstoße. Ein Beispiel dafür seien die Stolpersteine von Gunter Demnig. In wenigen Zeilen machten die Steine ein menschliches Schicksal ein bisschen nachvollziehbar. "Ich beobachte bei jeder Verlegung, dass Menschen neugierig sind und ins Nachdenken kommen", führt die Stadträtin aus. Sie plädiert ebenfalls für eine lebendige Gedenkkultur, auch mit dem Ziel, dem Rechtspopulismus aktiv zu begegnen.

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