04.12.2018

Rabbiner Mendel Gurewitz: „Mehr darüber sprechen, was Jüdischsein bedeutet“

Offenbach

Mendel Gurewitz ist immer wieder Ziel antisemitischer Attacken. Der Rabbiner der Offenbacher Gemeinde lebt sein Judentum dennoch offen aus.

Menachem Mendel Gurewitz (44) ist seit 20 Jahren der Rabbiner in Offenbach. Die dortige jüdische Gemeinde hat ihr Gemeindezentrum in der Kaiserstraße und zählt rund 730 Mitglieder. Bundesweite Bekanntheit erlangte Gurewitz 2013 durch einen Vorfall im Offenbacher Einkaufszentrum KOMM. Damals wurde er von mehreren Jugendlichen mit Migrationshintergrund angepöbelt und bedrängt. Der dazugerufene Sicherheitsdienst stellte sich auf die Seite der Angreifer und zwang Gurewitz, Beweisfotos und Videos von seinem Handy zu löschen. Vor einigen Monaten kam es erneut zu Pöbeleien gegen Gurewitz. In einem Fall soll daran ein junger Mann beteiligt gewesen sein, der schon an der Attacke im KOMM beteiligt war.

Rabbi Gurewitz, wenn man nach dem jüdischen Kalender geht, hat das Jahr noch ein paar Monate. Doch laut bürgerlichem Kalender nähern wir uns mit großen Schritten dem Jahresende. Ist das für Sie - wie für viele andere Menschen auch - eine Zeit, in der Sie die vergangenen Monate Revue passieren lassen?
Steuerlich ja.

Sonst eher nicht?
Die Frage ist witzig. Sehen Sie, für mich ist natürlich der hebräische Kalender sehr wichtig. Ich kenne zum Beispiel die Geburtstage meiner Kinder selbstverständlich, aber eben mit den hebräischen Monatsnamen. Vor wenigen Wochen wurde mein zehntes Kind geboren. Wenn ich nun zu den Behörden gehe, wegen der Kinder, sind die Leute öfter mal skeptisch – weil ich die Geburtstage meiner Kinder nicht parat habe. Also nach dem bürgerlichen Kalender nicht.

Dürfen wir Sie trotzdem fragen, wie für Sie die Bilanz der vergangenen Monate ausfällt?
In Bezug auf die Gemeinde? Naja, wie jedes Jahr. Ich bin ja hier schon seit 20 Jahren Rabbiner. Und jedes Jahr bemühen wir uns darum, etwas mehr zu machen. Das Gemeindeleben etwas besser zu machen.

Medial Beobachtung fand aber weniger ihre Gemeindearbeit als die wiederkehrenden antisemitischen Attacken und Beleidigungen, denen Sie auch in diesem Jahr wieder ausgesetzt waren …
Wissen Sie, da muss ich jetzt mal etwas sagen: Öfter als Beleidigungen bekomme ich Komplimente. Auf der Straße kommen Leute zu mir und sagen: Wie schön! Sie tragen ja eine Kippa. Die Leute freuen sich, dass ich meine Religion stolz zeige. Natürlich ist es oft schwer. Natürlich wird man beschimpft und das passiert zu oft. Und das stört.

Das klingt sehr abgeklärt …
Ich muss dazu sagen, dass meine Familie das wesentlich mehr stört als mich. Man kann ja auch nicht alles der Polizei melden. Wenn zum Beispiel jemand vorbeikommt und einfach „Jude“ schreit. Was soll ich da machen? Oder wenn jemand im Auto vorbeifährt und mir „Allahu Akbar“ hinterherbrüllt. Das passiert sehr oft. Was soll ich da sagen?

Sagen Sie denn etwas dazu?
Nein. Ich meine, es ist klar, warum sie es machen. Man weiß schon, was dahinter steckt. Aber melden kann ich das nicht. Für meine jüngeren Kinder ist das schrecklich, die haben Angst.

Sie scheinen das alles irgendwie handhaben zu können. Was macht das mit Ihren Kindern?
Mir sieht man ja an, dass ich Jude bin. Meine Kinder wollen am liebsten nicht mir durch die Straßen laufen. Manchmal verstecken sie auch ihre Kippot.

Sie waren in den vergangenen Jahren ja im Kampf gegen Antisemitismus sehr engagiert, haben unter anderem Schulklassen besucht und Schülern Rede und Antwort gestanden. Haben Sie manchmal das Gefühl, dass das alles sinnlos war?
Meine Bilanz des Engagements ist, dass die Erziehung gegen Antisemitismus nicht von mir als Juden kommen kann. Das muss von den Lehrerinnen und Lehrern und anderen Erziehungskräften kommen. Es gehört einfach in den normalen Lehrplan jeder Schule.

Ist Antisemitismus zu wenig Thema?
Für mich ist nicht Antisemitismus das Thema. Für mich ist das Thema: Was ist ein Jude? Die Leute haben wenig Ahnung davon, was ein Jude ist beziehungsweise was Jüdischsein bedeutet. Ich gebe Ihnen ein Beispiel: Ich war einmal in einer Schule in Speyer. Da haben mich die Kinder gefragt: Wie sieht der Tagesablauf eines jüdischen Kindes aus? Also habe ich gesagt: Es steht auf, Händewaschen, Gesichtwaschen, Zähneputzen, Frühstück, Schule, Hausaufgaben Fernsehen. Die Schüler haben gesagt: Das ist ja genau wie bei uns. Genau das probiere ich ja den Kindern zu erklären.

Glauben Sie, dass Sie damit Erfolg haben. An einer der Attacken in den vergangenen Monaten soll ein Jugendlicher beteiligt gewesen sein, der schon bei dem Angriff auf Sie im Einkaufszentrum KOMM 2013 beteiligt war.
So hat er es zumindest gesagt. Er hat gemeint: Sie kennen mich doch schon von damals. Ich war mir nicht sicher, weil ich mir Gesichter nicht so gut merken kann.

Ist das nicht noch mal besonders verletzend? Immerhin hatten die Angreifer damals ja Abbitte geleistet und Besserung gelobt.
Mich verletzt so etwas nicht. Aber es zeigt mir, dass mein Engagement und meine Bemühungen zumindest teilweise umsonst waren.

Jetzt war in den vergangenen Monaten immer wieder zu vernehmen, dass die antisemitischen Übergriffe in Deutschland zunähmen, dass Juden in Deutschland wieder verstärkt Angst hätten. Entspricht das auch der Stimmung in Ihrer Gemeinde?
Also vorneweg möchte ich sagen, weil die Frage immer wieder auftaucht: Das hat nichts speziell mit Offenbach zu tun. Antisemitische Vorfälle können überall in Deutschland passieren, überall in Europa. In Frankreich etwa ist die Situation ja noch schlimmer. Aber ja, die Mitglieder bemerken das natürlich. Das Gefühl gibt es.

Nervt es Sie eigentlich, ständig über Antisemitismus reden zu müssen?
Ja. Wir sollten mehr über Erziehung sprechen. Und wie gesagt, darüber, was eigentlich ein Jude ist. Ich verrate Ihnen einen Traum von mir. Hier gegenüber ist das Capitol, die ehemalige Synagoge Offenbachs. Mein Traum wäre, dort ein jüdisches Museum einzurichten – und zwar für Kinder. Ein interaktives Museum, in dem nichtjüdische Kinder erleben, was Jüdischsein bedeutet.

Am Montagabend werden Sie den Chanukkaleuchter vor dem Offenbacher Rathaus entzünden. Es werden jede Menge Vertreter der Stadt neben ihnen stehen. Steht die Stadt auch abseits solcher Feierlichkeiten an der Seite der jüdischen Gemeinde?
Immer. Die Stadt, die Leute, die verschiedenen Institutionen, die Kirchen, auch islamische Gemeinden. Unterstützung haben wir.

Was bedeutet Chanukka für Sie persönlich? Worauf freuen Sie sich am meisten?
Chanukka ist ein schönes Fest. Es ist nicht das wichtigste jüdische Fest, aber ein sehr schönes. Die Familie trifft sich, die Kinder kriegen Geschenke. Die Botschaft von Chanukka ist: Eine kleine Minderheit hat gegen ein großes mächtiges Reich gesiegt. Und wir feiern den Sieg von Religionsfreiheit und Toleranz. Das ist ein schönes Thema, bei dem viele Menschen auch mitfeiern wollen.

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