"Wir haben immer wieder davor gewarnt, dass so etwas passieren kann": Daniel Neumann im Interview mit hr-iNFO
hr-iNFO: „Deutschland ist wieder ein gefährliches Land für Juden“, hieß es in einer Reaktion auf den Anschlag in Halle. Teilen Sie dieses Gefühl?
Neumann: Ich glaube, Deutschland war schon die ganze Zeit ein gefährliches Pflaster für Juden. Das Unsicherheitsgefühl hat sich in den letzten Jahren zwar verstärkt. Aber es ist keineswegs so, dass wir vom Rechtsradikalismus, vom Rechtsextremismus und von Attentatsversuchen jetzt vollkommen überrascht worden wären.
Ganz im Gegenteil: der NSU, der Mord an dem Regierungspräsidenten Lübke, die Gruppe Freitag, die Anschlagspläne auf Berlin geplant hatte und deswegen jetzt im Gefängnis sitzt - wir haben eine ganze Reihe von rechtsextremistischen Anschlägen in den vergangenen Jahren zu verzeichnen gehabt. Und deshalb überrascht uns dieser Anschlag eigentlich nicht.
hr-iNFO: Was hören Sie aus den Gemeinden in Hessen - wie stark ist dort das Gefühl der Unsicherheit und der Bedrohung? Ist es gewachsen in den letzten Tagen?
Neumann: Es ist zweifelslos so, dass natürlich dieser Anschlag für viele eine schockierende, für andere ein beunruhigende, eine eruptive Wirkung hatte. Wieder andere zugegebenermaßen haben aber ebenso reagiert, wie ich das eben schon versucht habe darzustellen. Nicht so überrascht jedenfalls wie ein Großteil der Mehrheitsgesellschaft. Weil wir eben schon lange damit rechnen, und auch immer wieder davor gewarnt haben, dass so etwas passieren kann.
Nicht umsonst stehen vor den meisten Synagogen in Deutschland Polizisten. Nicht umsonst sind die meisten Gemeinden besser geschützt als Banken oder andere Institutionen. Das hat ja einen Grund. Dass das in Halle nicht der Fall war, ist komplettes Versagen der Sicherheitsbehörden und der Polizei. Aber das ist nicht der Regelfall in Deutschland.
"Brauchen neue Gespräche mit Landesregierung"
hr-iNFO: Wie gut fühlen sich die jüdischen Gemeinden in Hessen geschützt?
Neumann: Relativ gut. Wenn man sich vergegenwärtigt, dass es einen absoluten Schutz nicht gibt, dass man sich niemals, egal wie gut man geschützt ist, vollständig gegen Attentäter, gegen Terroristen, wird schützen können, dann muss man sagen, dass wir - natürlich mit Abstufungen an unterschiedlichen Orten - aber doch recht gut geschützt sind.
Die meisten Gebäude sind baulich in einem guten Zustand, der ein einfaches Eindringen verhindert, sind mit Kamerasystemen ausgerüstet, verfügen über Zugangsbeschränkungen wie Zäune oder Poller, haben Polizeischutz vor der Tür - und zwar bei jeder Veranstaltung mit Publikumsverkehr. Also insofern fühlen wir uns doch recht sicher.
hr-iNFO: Halten Sie diesen Anschlag in Halle für einen Anlass, nochmal neue Gespräche mit den Behörden in Hessen zu führen?
Neumann: Unbedingt, weil es bei der Sicherheit nicht nur darum geht, wie der Schutz im Außenbereich, im Straßenbereich und im öffentlich zugänglichen Bereich aussieht. Sondern es geht sicherlich auch um die Frage, was passiert, wenn es ein Attentäter erst mal in die Räumlichkeiten einer Synagoge schafft.
Nicht jeder sieht so aus wie der Attentäter von Halle, nicht jeder kommt in Kampfmontur mit einem offen sichtbaren Maschinengewehr daher und mit Sprengsätzen. Sondern es gibt eine Reihe von anderen Gefahrenquellen, die nicht minder gefährlich sind, und die aber trotzdem ausgeschaltet werden müssen oder denen in irgendeiner Form begegnet werden muss. Und das braucht unglaublich viel Geld, das braucht hohe Professionalität. Und da werden sicher noch Gespräch mit der Landesregierung folgen, um diesen Schutz auch für die jüdischen Gemeinden in Hessen in Zukunft sicherstellen zu können.
"Nicht bereit, unser ganzes Leben nur in Angst zu leben"
hr-iNFO: Was ist das für ein Gefühl, wenn man sich zum Gebet nur unter Polizeischutz versammeln kann?
Neumann: Ich muss ihnen sagen: Als Jude, der in Deutschland geboren ist, kenne ich es nicht anders. Und viele der Menschen, die mit mir zusammen in der Synagoge waren an diesem Mittwoch, kennen es auch nicht anders. Das heißt, es ist tatsächlich so, es ist auf der einen Seite für jeden, der von außen schaut, ein beklemmendes Gefühl. Es ruft Unverständnis hervor. Ich frage auch immer wieder: Man möchte sich doch mal vorstellen, würde man selbst in so einer Situation beten wollen? Möchte man seine Kinder in eine Synagoge schicken zum Religionsunterricht oder zu Veranstaltungen, die nur unter Polizeischutz, unter stärkster Sicherheitsbewachung abgehalten werden können?
Das ist der eine Blickpunkt, der andere ist: Man gewöhnt sich daran. Wir sind nicht bereit, unser ganzes Leben lang nur in Angst zu leben. Wir haben keine Lust, uns nur an Bedrohungslagen auszurichten oder diese permanent präsent zu halten in unserem Bewusstsein. Sondern wir wollen ein selbstbewusstes, offenes, plurales jüdisches Leben leben - und uns nicht ständig Gedanken machen müssen darüber, ob irgendwo hinter der nächsten Ecke ein Attentäter lauert.
Insofern haben wir hohe Ansprüche an die Sicherheitsbehörden, wir haben einen hohen Anspruch an den Staat, der seinen Aufgaben, seine Bürger zu schützen, wie man jetzt gesehen hat, leider nicht in jedem Fall nachkommen kann und hier dringend nachbessern muss. Aber wir schätzen die Anstrengungen, die bei uns in Hessen unternommen werden durchaus. Und müssen eben sagen, dass die uns doch ein recht gutes Gefühl geben.
"Wir brauchen mündige, demokratische Bürger"
hr-iNFO: Sie haben in der Vergangenheit immer wieder vor wachsendem Antisemitismus gewarnt. Viele sagen jetzt: Wir müssen den Antisemitismus stärker bekämpfen. Was muss denn tatsächlich getan werden?
Neumann: Das ist ein so komplexes und vielschichtiges Problem und es gibt so viele Punkte, an denen man starten muss: im privaten Bereich, im Familienbereich, an den Stammtischen, im Vereinsbereich, im Bildungsbereich, in der Schule. Es ist ein Fokus, der gesetzt werden muss, auf Demokratie-Erzeihung, auf ein starkes, freiheitlich-liberales Denken. Es muss kritisches Denken viel stärker beigebracht werden. Das muss in den Schulen zu einem Fokus werden. Das muss ein Kernelement von Ausbildung sein.
Wir haben unheimlich starke Fokussierung auf bestimmte Themen, ob es jetzt Mathematik ist oder die deutsche Sprache: alles wichtige Themen. Aber was hilft es mir, wenn ich am Ende keine mündigen demokratischen Bürger erziehen kann, die in der Lage sind, eine Gesellschaft zu tragen, in einer solidarischen Gesellschaft ihren Teil beizutragen, ein Land lebenswert zu machen.
Das ist es, worum es geht: sich dem Nächsten an die Seite zu stellen, Schulter an Schulter, und gemeinsam für ein offenes, solidarischen, pluralistischen Land zu kämpfen, in dem Antisemitismus, Rassismus, Fremdenfeindlichkeit keinen Platz haben. Und diese Stärke, dieses Selbstbewusstsein und dieses kritische Denken, das dafür notwendig ist, muss unseren Kinder von klein auf, von der Wiege an, vom Kindergarten über die Schule über alle Institutionen, die dann noch folgen, beigebracht werde. Damit das Fundament da ist, um Rechtsextremismus den Boden zu entziehen.
hr-iNFO: Gerade bei diesem Täter spielt die Radikalisierung im Internet eine große Rolle. Ist die Bedeutung der elektronischen Medien für die Ausbreitung des Antisemitismus bisher unterschätzt worden?
Neumann: Ich bin mir nicht sicher, ob sie unterschätzt worden ist. Aber man hat jedenfalls keine wirksamen Gegenstrategien entwickelt. Das heißt, es kann durchaus sein, dass das Problem inzwischen erkannt worden ist. Aber die Frage ist: Was folgt daraus? Was passiert denn nun? Wie agieren die Sicherheitsbehörden? Wird das Internet in irgendeiner Form stärker überwacht? Gibt es möglicherweise bestimmte Räume, Hate Speech, Radikalisierungsmöglichkeiten im Internet, die nun eingeschränkt werden, bei denen die Polizei ein stärkeres Auge darauf hat, wo die Sicherheitsbehörden stärker reinschauen? Gibt es vielleicht sogar Bereiche, die abgeschaltet werden, wie das Darknet? Gibt es Möglichkeiten und wie reagiert die Polizei darauf?