12.11.2019

Großer Besucherandrang bei Führung durch Synagoge in Gießen

Gießen

"Der Wiederaufbau war eine verrückte Idee", sagt Dow Aviv. Bei einem Rundgang durch die Jüdische Gemeinde in Gießens erinnerte der Vorsitzende auch an die Anfänge der Synagoge. Zugleich spricht er über Integrationsleistung und judenfeindliche Übergriffe.

"Der Wiederaufbau der Synagoge in Gießen war eine verrückte Idee", sagte Dow Aviv, Vorsitzender der Jüdischen Gemeinde Gießens, zu Beginn der Führung durch die Gießener Synagoge. Der Verein "Die Brücke" und die Deutsch-Englische Gesellschaft Gießen hatten zu dem Besuch eingeladen. Das Interesse war so groß, dass nicht alle Interessierten daran teilnehmen konnten.

Dow Aviv berichtete über die Neugründung der Gemeinde und der Errichtung des jüdischen Gemeindezentrums. Es war die Idee von Thea Altaras und ihrem Mann Prof. Jakob Altaras, eine alte Synagoge auf dem heutigen Gelände wieder aufzubauen. Altaras hatte das Ziel gesehen und dieses gegen alle Widerstände durchgesetzt. Die Synagoge stand in Lohra und war nicht im Krieg zerstört worden. Sie musste auseinandergebaut, wieder zusammengesetzt und restauriert werden. Heute präsentiert sie sich in ihrem ursprünglichen Zustand, mit ihrer ursprünglichen Bestimmung, inmitten des Gemeindezentrums.

Bei der Eröffnung hatte die Gemeinde zwischen 60 und 70 Mitglieder, heute sind es etwa 370. "Wir haben nicht mit einer solchen Erhöhung gerechnet", so Dow Aviv. Diese kam durch den Zuzug jüdischer Mitbürger aus dem Osten in den 1990er Jahren. "Ab diesem Zeitpunkt mussten wir ein großes Stück an Integrationsarbeit leisten, denn viele sprachen kein Deutsch und hatten seit vielen Jahren ihren Glauben nicht praktizieren können."

Die Jüdische Gemeinde Gießen zählt zu den orthodoxen Gemeinden. Das bedeutet: Männer und Frauen haben getrennte Plätze. Die Männer sitzen unten, für die Frauen ist die Empore reserviert. Besonders stolz präsentierte Aviv die Thora-Rolle, aus der an jedem Schabbat - nach strengen Regeln - vorgelesen wird. Die Thora selbst ist für sich genommen schon ein Kunstwerk: Sie ist das Heiligste für die Gemeinde und enthält die fünf Bücher Moses. Sie wird nach alter Tradition auf Pergamentbögen und nur mit einem Federkiel und Tinte, ohne weitere Hilfsmittel, geschrieben. "Die Texte kann man nicht so einfach lesen, denn sie werden ohne Satzzeichen oder Absätze niedergeschrieben", erläutert der Vorsitzende. Eine Textpassage daraus zu lesen, wie dies bei der Bar Mizwa von jedem Jungen verlangt wird, bedarf einer besonderen Vorbereitung.

Auch zu judenfeindlichen Übergriffen äußerte sich Dow Aviv. Bisher sei die hiesige Gemeinde verschont geblieben. Ihm sei allerdings auch bekannt, dass sich viele Juden lieber ohne Kippa in der Öffentlichkeit zeigen.

Im zweiten Teil der Informationsveranstaltung berichtete der junge Student Philipp van Slobbe über sein Freiwilliges Soziales Jahr, das er in einem jüdischen Pflegeheim in Amsterdam absolvierte. Van Slobbe wurde durch die "Aktion Sühnezeichen - Friedensdienste" in die Pflegeeinrichtung Beth Shalom vermittelt. "Wohnen können dort auch Nicht-Juden, sie müssen jedoch die Regeln des Kaschruts innerhalb des Hauses akzeptieren." Die meisten Bewohner seien sehr freundschaftlich und offen mit ihm umgegangen. Einige Überlebende des Holocausts hätten ihn aber ihre Abneigung gegenüber Deutschen spüren lassen.

Eine Frau sei anfangs sehr reserviert gewesen. Mit der Zeit hätten sie sich angefreundet. Zum Schluss habe sie ihn gebeten, dass seine Eltern sie besuchen sollten. "Diese sind zwar auch nach dem Zweiten Weltkrieg zur Welt gekommen, doch das verschwamm in ihrem Gedächtnis", so Philipp van Slobbe. Dieses Treffen habe ihr geholfen, mit der Vergangenheit abzuschließen. Nach seiner FSJ-Zeit stand er noch bis zu ihrem Tod mit der Frau in Kontakt.

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