Bedrohung wächst: Schutz jüdischer Mitbürger in Gießen genießt Priorität
Die gute Nachricht ist: Seit zwei Jahren hat es im Stadtgebiet zumindest keine körperlichen Übergriffe mehr auf Menschen jüdischen Glaubens gegeben. Das vermag trotzdem nur bedingt zu beruhigen. Denn die Verunsicherung wächst, weil abgesehen von Bildung und Aufklärung nach wie vor kein Heilmittel gegen das Gift des Antisemitismus existiert - und derart motivierte Anfeindungen und Straftaten in Deutschland wieder häufiger vorkommen. Anfang des Jahres beispielsweise sei ein Kantor der Jüdischen Gemeinde Gießen, der zu Fuß unterwegs war, übel beschimpft worden, schildert der Vorsitzende Dow Aviv im Gespräch mit dem Anzeiger. "Es hat nicht viel gefehlt, dann wäre er auch angegriffen worden."
Dass aus Worten schnell Taten werden, hat nicht nur der Anschlag auf die Synagoge in Halle gezeigt. Dabei scheiterte der Attentäter nicht an umfassenden Schutzmaßnahmen, sondern schlicht an einer massiven Holztür. Anfang November hat die hessische Landesregierung nun ihrerseits 4,6 Millionen Euro bereitgestellt, um jüdische Einrichtungen noch besser zu sichern, weitere vier Millionen Euro sind für 2021 eingeplant. Was das konkret für Gießen bedeutet, ist noch nicht klar.
Selbst im Jahr 2020 gehört die stete Polizeipräsenz im Burggraben 4 noch immer zur Realität. "Und wir merken schon, dass antisemitische Ressentiments und Aktivitäten schlimmer werden", bedauert Dow Aviv. Glücklicherweise mache sich das momentan nicht ganz so stark bemerkbar, da aufgrund der Corona-Pandemie der Alltag ausgebremst ist und insgesamt weniger stattfindet. An enthemmter Hetze in "sozialen" Netzwerken ändert das freilich nichts. Gleichzeitig registriert Dow Aviv ein steigendes Interesse am Judentum und am jüdischen Leben. Das drücke sich einerseits in vermehrten Anfragen von Studierenden aus, die etwa für Master- oder Doktorarbeiten die kleine Bibliothek und das Archiv der Gemeinde nutzen möchten. "Andererseits erhalten wir viele Mails und verbale Unterstützung. Über den Zuspruch freuen wir uns sehr. Das erleichtert es, mit der Situation zurechtzukommen", so der Vorsitzende. Dennoch versuchten Juden, "sich möglichst unauffällig zu verhalten, niemanden zu provozieren und die Kippa in der Öffentlichkeit eher durch einen Hut zu ersetzen".
Die tödliche Bluttat von Halle hatte die Gießener Polizei wiederum zum Anlass genommen, die bisherigen Maßnahmen auf den Prüfstand zu stellen und zu schauen, was eventuell verbessert werden müsste: sicherheitstechnisch, organisatorisch und personell, erinnert Polizeipräsident Bernd Paul, der es als "unerträglich" empfindet, dass es erforderlich ist, Veranstaltungen und Gebäude jüdischer Gemeinden überhaupt absichern zu müssen. Zudem beschlossen die Stadtverordneten vor einem Jahr, in entsprechende Modernisierungen und Vorkehrungen zu investieren. "Wir lassen die Jüdische Gemeinde und ihre Mitglieder nicht allein, sondern werden ihren Schutzbedürfnissen Rechnung tragen", betonte Oberbürgermeisterin Dietlind Grabe-Bolz in der Debatte. Als Grundlage dienten Empfehlungen aus einem Gutachten des Landeskriminalamtes. "Die versprochene Hilfe haben wir bekommen", bestätigt Dow Aviv; 70 000 Euro aus dem städtischen Haushalt seien bereits geflossen. Die Sicherheitsanforderungen seien mittlerweile aber nochmal angehoben worden, "es gibt sehr viele Auflagen". Für Anfang dieses Monats werden Fachleute in Gießen für eine weitere Bedarfsanalyse erwartet.
Dafür, dass aus Wiesbaden zusätzliche Mittel abgerufen werden können, ist Dow Aviv prinzipiell dankbar, "wir wissen das zu schätzen". Allerdings sei es eben ein langer Weg, bis vor Ort mit diesen Geldern etwas umgesetzt und verändert werden könne. Beabsichtigt ist zum Beispiel, die Außenbegrenzung auf 2,50 Meter zu erhöhen. Zudem werde zwischen den beiden Außentoren im Eingangsbereich eine abgesicherte Schleuse benötigt, "das ist unser primäres Anliegen". Doch sei die "Hardware" nur die eine Seite. Darüber hinaus brauche es ausgebildetes Personal für die Kontrollen, "denn was nützt sonst die beste Abwehrausrüstung". Die Finanzierung könne eine kleine Gemeinde wie Gießen indes nicht stemmen. Deshalb müsse hier im Austausch mit Stadt und Polizei, "mit denen wir super und unbürokratisch zusammenarbeiten", nach Lösungen gesucht werden.
Kippa-Träger beleidigt
Zwar seien in anderen Städten vermutlich "mehr Reizobjekte" vorhanden, grundsätzlich aber habe die "Qualität der Drohungen zugenommen", pflichtet der Polizeipräsident bei. Zumal Phänomene wie Antisemitismus, Rassismus und gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit tief in die Mitte der Gesellschaft hineinreichten. "Für die Polizei ist es daher eine wichtige und selbstverständliche Aufgabe, sehr genau zu beobachten, zu beraten und alles zu tun, um dagegen vorzugehen." Seit 2018 seien in Gießen jeweils zwei antisemitische Straftaten pro Jahr zu verzeichnen. Das fängt an mit E-Mails und Texten mit volksverhetzenden Inhalten, in denen zum Beispiel Adolf Hitler als "Universalgenie" angepriesen und zur "Vernichtung des jüdischen Volkes" aufgerufen werde. Hinzu kommen Farbschmierereien mit ebenfalls volksverhetzenden Schriftzügen. "Außerdem wurde zwei Personen, die eine Kippa trugen, der Hitlergruß gezeigt, und sie wurden beleidigt", berichtet Jörg Reinemer, Pressesprecher des Polizeipräsidiums Mittelhessen. Und obendrein sei auf einem jüdischen Friedhof ein Grabstein umgestoßen worden. "All diese Taten werden auch ausermittelt", versichert wiederum der Behördenleiter. Es gebe bei der Schwere der Delikte jedenfalls keine Schwelle, die erst überschritten werden müsse.
Großen Wert legt Bernd Paul, der schon 2007 im Innenministerium das Beratungsnetzwerk gegen Rechtsextremismus mit aufgebaut hat, auf eine regelmäßige und vertrauensvolle Abstimmung mit der Jüdischen Gemeinde. Daher habe er auch kurz nach seinem Amtsantritt 2016 Kontakt mit Dow Aviv aufgenommen und eine gemeinsame Fortbildung für polizeiliche Führungskräfte initiiert, um das Verständnis für die Sorgen, Besonderheiten und Bedürfnisse in der Gemeinde zu stärken. Schließlich sei "Bildung der Schlüssel", mit dem Vorurteilen und Vorbehalten am ehesten begegnet werden könne. Und es gelte, wie Dietlind Grabe-Bolz unterstreicht, "an Schicksale zu erinnern, historisches Lernen zu befördern sowie dazu beizutragen, jüdisches Leben sichtbar zu machen und durch Zivilcourage zu schützen".