27.07.2021

Kasselerin auf Feindesliste von Rechtsextremen: „Ich will mich nicht verstecken“

Kassel

Wie Walter Lübcke stand auch Ilana Katz auf einer Feindesliste von Rechtsradikalen. Nun ist die Vorsitzende der Jüdischen Gemeinde Kassel Teil einer Ausstellung gegen rechten Terror.

Ilana Katz von der Jüdischen Gemeinde Kassel gehört zu den 57 Menschen, die für die Ausstellung „Menschen – im Fadenkreuz des rechten Terrors“ fotografiert wurden. Alle Porträtierten standen wie der Kasseler Regierungspräsident Walter Lübcke auf Feindeslisten. Die Ausstellung des Recherchezentrums Correctiv und von elf Regionalmedien (darunter die HNA) ist diese Woche von Dienstag bis Freitag auf dem Kasseler Scheidemannplatz und in der Treppenstraße zu sehen. Die HNA sprach mit Katz über den Hass von Rechten.

 

Wie haben Sie erfahren, dass Sie auf einer Feindesliste von Rechtsextremisten standen?

Das erste Mal habe ich einen Artikel mit meinem Namen im Internet gesucht und ihn nicht gefunden. Auf einer der hinteren Google-Seiten bin ich auf eine Feindesliste von Rechtsextremisten gestoßen. Dort fand ich nicht nur meinen Namen, sondern auch die Namen meiner Kinder und die Anschrift. Ich war nicht erschrocken.

Wirklich nicht?

Zunächst fand ich es tatsächlich eher lustig als ernst. Ich komme aus Riga. In Lettland waren antisemitische Vorfälle alltäglich. Als ich mit meiner Familie nach Deutschland ging, habe ich mich gefreut. Hier habe ich zunächst keinen Antisemitismus gespürt. Als mein Name auf der Feindesliste auftauchte, auf der auch Walter Lübcke stand, hat sich die Polizei bei mir gemeldet. Auch danach habe ich keine Angst gespürt, hatte aber ein merkwürdiges Gefühl.

Was hat das mit Ihnen gemacht? Nehmen Sie sich nun mehr in Acht als vorher?

Die Polizei hat eine Schulung mit mir gemacht. Wenn ich aus dem Haus gehe, soll ich nach links und rechts schauen. Hin und wieder fahren Beamte Streife in der Nähe meines Hauses. Wenn wieder ein antisemitischer Anschlag passiert ist wie in Halle, steht die Polizei 24 Stunden vor dem Sara-Nussbaum-Zentrum.

Wann sind Sie nach Deutschland gekommen?

Am 9. November 1999.

Ausgerechnet an dem Datum, an dem an die Pogrome der Nationalsozialisten erinnert wird.

Ich nenne es jüdisches Schicksal, dass wir ausgerechnet an einem 9. November hier ankamen. In Riga ging mein Sohn in eine orthodoxe Schule und trug eine Kippa. Das war gefährlich. Als wir nach Deutschland kamen, konnten wir frei leben. Ohne Angst. In der Schule wurde mein Sohn allenfalls gefragt, was das für eine komische Mütze sei.

Wissen Sie, warum Sie auf der Liste gelandet sind? Nur weil Sie Jüdin sind?

Ich bin schon lange im Vorstand der Jüdischen Gemeinde. Vor Corona habe ich etwa auf Podien klar Stellung bezogen gegenüber Rechten. Ich bin sehr direkt. Auch das hat mich wahrscheinlich zum Feindbild gemacht. Ich spüre schon länger, dass sich die Stimmung im Land ändert. Die rechte Szene wird immer größer. Auf der Straße sieht man schon mal den Fascho-Gruß.

Auch Gewalt gegen jüdische Einrichtungen hat in den vergangenen Jahren zugenommen – vor allem im Zuge des Nahostkonflikts. Wann hat sich die Situation verschärft?

Das war 2014, als die Situation im Gaza-Streifen eskaliert ist. Bis dahin haben sich die Menschen geschämt, antisemitische Sätze zu sagen. Dann riefen propalästinensische Demonstranten auf Kundgebungen „Hamas, Hamas, Juden ins Gas“ und „jüdische Schweine“. Kaum jemand wurde dafür bestraft. Das war wie die Öffnung der Büchse der Pandora. Viele dachten sich: Wenn das erlaubt ist, darf ich es auch.

Wie oft erleben Sie Antisemitismus im Alltag?

Ab und an spüre ich salonfähigen Antisemitismus. Beim Small Talk auf dem Geburtstag werde ich gefragt: „Was machen Sie mit den Palästinensern in Gaza?“ Ich mache gar nichts mit den Palästinensern in Gaza. Und auch nicht die anderen Juden, die in Deutschland leben. Heutzutage verbreiten manche auch wieder Verschwörungstheorien, Juden würden das Blut von Babys trinken.

Woran liegt das?

Die Menschen wissen nichts über uns Juden. Jenseits der Shoa gibt es zu wenig Aufklärung. Manchmal fragen uns Schüler: „Dürfen wir Sie anfassen?“ Wir brauchen mehr Berührungen. Vor einigen Wochen ist an einer Kasseler Schule folgender Fall passiert: Ein jüdischer Junge kam in seine Klasse, und an der Tafel stand „Juden töten“. Auf die Frage des Lehrers, wer das war, meldete sich niemand. Vor zehn Jahren hätten wir uns das nicht vorstellen können.

Wie geschockt waren Sie, als Sie hörten, dass der Kasseler Regierungspräsident Walter Lübcke von einem Neonazi ermordet wurde?

Das war eine Katastrophe für mich. Ich habe das lange nicht verarbeiten können. Zwei Wochen vor seinem Tod hatte ich noch mit ihm gesprochen. Wir haben beide geraucht und standen bei Veranstaltungen oft zusammen. Wir waren rauchende Minderheiten. Damals erzählte er mir, dass er Israel besuchen und dort einen Kochkurs machen wollte. Das sei sein Traum, sagte er. Er war ein lebenslustiger Mensch und immer positiv.

Hat Ihnen der Mord verdeutlicht, dass auch Sie in Gefahr sind?

Bis dahin wollte ich nicht, dass die Polizei unsere Synagoge bewacht. Wir leben doch in einem demokratischen Land. Wieso soll neben mir ein Polizeiauto stehen? Nach dem Mord an Walter Lübcke habe ich verstanden, dass das notwendig ist. Die ruhigen Zeiten sind leider vorbei. Und ich habe wenig Hoffnung, dass das besser wird. Trotzdem habe ich auch positive Erfahrungen mit Menschen aus der rechten Szene gemacht.

Wie meinen Sie das?

Ich habe mit dem Aussteigerprogramm Ikarus zusammengearbeitet. Eine Frau, die ihre Neonazi-Vergangenheit hinter sich lassen wollte, hat ein Praktikum in meiner Tagespflegefirma gemacht. Wir haben viel miteinander gesprochen.

Wie viel Überwindung kostet es, jemandem eine Chance zu geben, der vorher antisemitische Parolen gegrölt hat?

Für mich gibt es keine Alternative. Mir hat früher jemand den Rat gegeben: Wenn du nichts gibst, dann kriegst du nichts. Im Sara-Nussbaum-Zentrum machen wir auch Führungen für Abiturklassen. Einmal stellte ein junger Mann auffällig provokative Fragen. Nach einer Woche meldete er sich bei uns und sagte, dass er nun anders denke. Er hatte sich sein tätowiertes Hakenkreuz entfernen lassen.

Was erhoffen Sie sich von der Ausstellung „Menschen im Fadenkreuz“?

Erst wollte ich nicht mitmachen. Es sollte keiner wissen, dass ich auf einer Feindesliste stehe. Aber ich will Rechtsextremisten nicht das Gefühl geben, dass sie gewonnen haben. Ich will mich nicht verstecken. Ich werde mich immer gegen Rechts engagieren. Auch wenn Freunde sagen: „Du bist verrückt.“

 

Ausstellung und Buch

Noch bis Ende des Jahres tourt die frei zugängliche Ausstellung „Menschen – im Fadenkreuz des rechten Terrors“ durch deutsche Städte, die das Recherchezentrum Correctiv umgesetzt hat. Ab Dienstagvormittag ist sie bis Freitag auf dem Kasseler Scheidemannplatz und in Teilen der Treppenstraße zu sehen. Gezeigt werden Porträts, die der Fotograf Ivo Mayr von Menschen auf „Feindeslisten“ gemacht hat. Darunter sind Prominente wie die Politiker Karl Lauterbach, Paul Ziemiak, Sabine Leutheusser-Schnarrenberger, Cem Özdemir und der Essener Bischof Franz-Josef Overbeck sowie viele weniger bekannte Menschen aus der Mitte der Gesellschaft. Zur Ausstellung ist das gleichnamige Buch (275 Seiten, 35 Euro) erschienen, in dem nicht nur die Porträts zu sehen sind. Unter Leitung von Correctiv zeigen 15 Reporter von elf regionalen Medien wie der HNA Strategien der rechten Szene sowie Lücken in der Aufklärung auf. Zu bestellen und mehr Infos über die Webseite menschen-im-fadenkreuz.de.

Das ist Ilana Katz

Ilana Katz wurde in der lettischen Hauptstadt Riga geboren und studierte Biologie. 1999 kam sie mit ihrer Familie nach Deutschland. In Kassel führt Katz einen Pflegedienst und ist seit zwölf Jahren Vorsitzende der Jüdischen Gemeinde. Zudem leitet sie in Wehlheiden das Sara-Nussbaum-Zentrum für Jüdisches Leben. Die 59-Jährige hat zwei erwachsene Kinder. In ihrer Freizeit malt sie gern. Am Sonntag hat Katz im Sara-Nussbaum-Zentrum die sehenswerte Ausstellung „Netz gegen Hetz“ eröffnet, die die Vielfalt jüdischen Lebens in Kassel sichtbar macht. Infos: sara-nussbaum-zentrum.de.

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