Zwischen Tradition und Moderne: Kulturkirche St. Thomas Morus besucht die Jüdische Gemeinde in Gießen
Dow Aviv, Vorsitzender der Jüdischen Gemeinde in Gießen, begrüßte die Gäste und mit Blick auf den vor dem Gemeindezentrum geparkten Polizeiwagen meinte er, eigentlich bräuchte er diese Sicherheitsvorkehrungen nicht. Er fühle sich in Gießen sicher, aber das sei nunmal Vorschrift.
Die 150 Jahre alte Synagoge stammt aus Wohra im Landkreis Marburg-Biedenkopf und wurde seinerzeit Stein für Stein abgetragen, restauriert und 1995 in Gießen neu errichtet, erfuhren die Gäste. Aviv, der als Student Ende der 70er Jahre beim Wiederaufbau der jüdischen Gemeinde mit Prof. Altaras selbst dabei gewesen ist, führte in die Anfänge der jüdischen Gemeinde nach dem Krieg und die damalige Ausgangslage ein. Denn über 30 Jahre nach dem Krieg lebten in der Stadt zwar durchaus wieder einige Juden. Die hatten sich aber bis dahin nicht getraut, sich öffentlich zu ihrem Judentum zu bekennen. Bemerkenswert ist, dass selbst heute noch viele jüdische Schüler aus Angst sich zu "outen" nicht die Möglichkeit nutzen, sich vom staatlichen Religions- und Ethikunterricht zu befreien, um stattdessen den Unterricht in der jüdischen Gemeinde zu besuchen.
Neben Dow Aviv empfingen vom Gemeindevorstand außerdem Marina Frankfurt, Simon Beckmann und Ingeborg Plempe die Gäste aus der St. Thomas Morus Kirche und schilderten einen ersten Eindruck davon, wie sich das Leben in einer Gemeinde abspielt, deren Einzugsgebiet sich von Bad Nauheim bis Marburg und von Haiger bis kurz vor Fulda erstreckt. Dabei ging es auch um Auswirkungen des demografischen Wandels, der religiösen Distanzierung in der Gesellschaft und auch um die Herausforderung der praxistauglichen Einhaltung der zahlreichen jüdischen Gebote. Denn wenn am Shabbat jegliche Arbeit verboten ist, worunter auch das Bedienen eines Kraftfahrzeugs fällt, erschwert das insbesondere für ältere Gemeindemitglieder die Anreise. Dabei ist es umso wichtiger, dass wenigstens immer zehn Männer anwesend sind, damit Gottesdienst gefeiert und aus der Tora gelesen werden darf. Aber diese Erschwernisse lassen die Mitglieder der jüdischen Gemeinde nicht davon abhalten, ihren Glauben zu leben. "Es findet sich für alles eine Lösung", bringt der 28-jährige Simon Beckmann ein typisch jüdisches Lebensgefühl auf den Punkt und veranschaulicht dabei wie es ist, Angehöriger eines Volkes zu sein, was ihn unabhängig von Nationalität, Herkunft und Sprache mit allen anderen Juden auf der Welt verbinde und in ihm ein Gefühl von Heimat wecke.
Bei diesem ersten Besuch offenbarten sich Unterschiede, aber auch Gemeinsamkeiten. Deutlich wurde dies bei der Besichtigung des Inneren der Synagoge. Hier zeigte sich, dass jüdische Traditionen auch christliche sind, zum Beispiel bei der uralten Kunst der Psalmrezitationen, wie sie die jüdischen Kantoren seit Jahrhunderten pflegen und sie auch in den christlichen Kirchen ihren Platz finden.
Erstaunt nahmen die Vertreter von St. Thomas Morus zur Kenntnis, dass diese jüdische Gemeinde sich selbst zwar als "orthodox" bezeichnet, deren Mitglieder - zumindest im Vorstand - aber aus modernen, aufgeklärten und der Wissenschaft zugeneigten Menschen bestehen und sich somit ständig im Spannungsfeld zwischen Tradition und Moderne zu bewegen scheint.