20.08.2021

Wie lebt es sich als Jude in Gießen?

Gießen

Simon Beckmann, Vorstand der Jüdischen Gemeinde Gießen, richtet im Livetalk mit Felix Döring den klaren Appell an die Politik, "mehr mit, als über Juden zu sprechen".

Jüdisches Leben in Deutschland kann auf eine 1700 Jahre alte Tradition zurückschauen, was im aktuellen Jubiläumsjahr 2021 auch in zahlreichen Festakten und Veranstaltungen gefeiert wird. Doch, wie lebt es sich als Jude hierzulande nach einer so langen Geschichte mit teils sehr dunklen Kapiteln heute? Die Frage stellte Felix Döring, Direktkandidat der SPD für die anstehende Bundestagswahl in seinem YouTube-Format "Live-Gespräch" seinem Gegenüber Simon Beckmann. Dieser ist unter anderem im Vorstand der Jüdischen Gemeinde in Gießen aktiv und berichtete über sein Engagement und seine Erfahrungen im Alltag.

"Schon meine Mutter war im Vorstand der Jüdischen Gemeinde aktiv. Seit ich mich erinnern kann, war ich in das Leben der Gemeinde eingebunden", erklärt Beckmann auf die Frage nach dem Grund seines Engagements. Schon lange sei er bei der Zentralwohlfahrtsstelle der Juden in Deutschland in Frankfurt ehrenamtlich aktiv gewesen, "quasi wie die Caritas oder die Diakonie in jüdisch", ergänzt er augenzwinkernd. Noch heute bilde er dort Betreuer für schwerbehinderte Kinder aus. "Dann dachte ich mir irgendwann, dass ich auch hier in der Gemeinde vor Ort mehr tun kann", erklärt der studierte Pädagoge.

Die Arbeit im Vorstand sei dabei vergleichbar mit der in jedem anderen Verein: "Wir organisieren Veranstaltungen, Führungen, Treffen unter den Mitgliedern - und natürlich Gottesdienste und größere Zusammenkünfte bei hohen jüdischen Feiertagen", so Beckmann weiter. Eine Besonderheit sei auch die Organisation einer Art Sozialdienst für die rund 400 Mitglieder der Gemeinde. "Viele stammen aus der ehemaligen Sowjetunion und sprechen nicht gut Deutsch, deshalb helfen wir bei Übersetzungen oder Amtsgängen", so der engagierte Gießener.

Er selbst sieht sich als säkularer Jude. "Mein Leben ist vollgepackt mit Judentum. Ich liebe die Traditionen wie hohe jüdische Feiertage, Kerzen anzünden oder koscheren Wein trinken. Das ist für mich wichtiger, als mich an alle Gebote zu halten oder wöchentlich die Synagoge zu besuchen", so Beckmann. Das jüdische Gotteshaus am Burggraben ist übrigens ein ganz besonderes Gebäude. "Die kleine hessische Stadt Whora hatte eine Synagoge, aber keine Juden mehr. Hier gab es eine Gemeinde, aber keine Synagoge. Dr. Thea Altaras, Frau unseres Gründervaters Prof. Jakob Altaras, hatte deshalb 1995 ihre Idee realisiert, die Synagoge dort ab- und hier Stück für Stück wieder aufbauen zu lassen", erklärt das Vorstandsmitglied die Geschichte des Fachwerkhauses.

Mit offenem Antisemitismus sei der Gießener in seiner Heimatstadt bisher nie konfrontiert gewesen. "Die Stadt Gießen ist auch vorbildlich, was die Unterstützung des Judentums und unserer Gemeinde betrifft", lobt er die Arbeit der Stadt. Beunruhigend seien für ihn aber die generellen Tendenzen in Deutschland, wieder offenen Judenhass zu zeigen. "Das hat man bei Demonstrationen zum erst jüngst wieder aufgeflammten Nahostkonflikt sehen können, aber auch bei Querdenkern, die Verschwörungsmythen auf die Straße tragen", so Beckmann. Hier wünsche er sich von der Gesamtgesellschaft "das gleiche Engagement im Kampf gegen Antisemitismus, wie es oft für viele andere Kämpfe aufgebracht wird".

"Zum Judentum hat jeder eine Meinung und es ist einfach keine Normalität, daran wird auch ein großer Jubiläumsfestakt nichts ändern. Ich wünsche mir deshalb mehr echtes Kennenlernen, als ein Jahr lang Interesse, und dann nichts mehr von den Menschen zu hören", erklärte Beckmann zu der aktuellen Situation als deutscher Jude.

Deshalb macht er besonders gerne Führungen durch die Räumlichkeiten der Gemeinde und sucht dabei den persönlichen Kontakt mit Besuchern in der Synagoge oder bei Besuchen in Schulen oder Vereinen. "Ich besuche für mein Leben gern Schulklassen und mache den jungen Leuten dort klar, dass das Judentum noch viel mehr beinhaltet als Ultraorthodoxie und Shoah", erklärt er. Mehr Prävention gegen Rassismus und Antisemitismus in Schulen zu betreiben, ist auch eine politische Forderung, die Beckmann dem Bundestagskandidaten mit auf den Weg gibt. Sein Ziel sei deshalb ganz klar: "Man sollte mehr mit Juden sprechen, als über sie!

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