12.01.2024

Mutter-Schutz: Daniel Neumann über eine Frage, die heute Gerichte beschäftigt und bereits in der Tora diskutiert wurde

Wie viel wert ist das ungeborene Leben gegenüber dem der Mutter? Und sollte sie selbst entscheiden, ob sie das Kind behält?

Es gibt Themen, um die seit eh und je heftig gestritten wird. Weil sie von hoher Relevanz für die Menschen und die Gesellschaft als solche sind. Und weil sie tiefe Überzeugungen berühren. Ein solch heißes Eisen ist die Abtreibung. Oder besser: die Frage, ob Abtreibungen erlaubt oder verboten werden sollen. Ob sie strafbar oder straffrei sein sollen. Sie begegnet uns auch in diesen Tagen wieder in den Nachrichten, mal als juristische und mal als politische Frage.

In unserem Nachbarland Polen etwa ist eine legale Abtreibung seit drei Jahren nahezu unmöglich, nachdem die ehemalige rechtsnationale Regierung und das Verfassungsgericht die ohnehin strengen polnischen Abtreibungsgesetze nochmal verschärft hatten. Das linksliberale Lager hat nach seinem jüngsten Wahlerfolg hingegen erste Schritte unternommen, um das Abtreibungsrecht zu liberalisieren.

Auch in den USA hat der oberste Gerichtshof vor nicht allzu langer Zeit das Recht auf Abtreibung gekippt, nachdem es gut 50 Jahre Bestand hatte. Die Reaktionen darauf waren so heftig wie erwartbar. Denn gerade in der Abtreibungsfrage stehen sich zwei Lager nahezu unversöhnlich gegenüber.
Unbedingter Schutz für das ungeborene Leben

Auf der einen Seite das Pro-Life-Lager, dessen Anhänger der Meinung sind, dass dem ungeborenen Leben vom Moment der Empfängnis an unbedingter Schutz zu gewähren ist. Sie lehnen Abtreibungen kategorisch ab, da für sie das Leben des ungeborenen Kindes absoluten Schutz genießt. Auf der anderen Seite das Pro-Choice-Lager. Dessen Anhänger meinen, dass eine jede Frau das Recht haben muss, frei über ihren Körper zu bestimmen. Und da aus ihrer Sicht der Fötus Teil des Körpers der Mutter ist, müsse diese logischerweise auch das Recht haben, sich für oder gegen eine Abtreibung entscheiden zu dürfen. Hier der unbedingte Schutz des ungeborenen Lebens und dort die unbedingte Entscheidungsfreiheit der Schwangeren.

Doch wie steht das Judentum zu dieser Frage? Was sagen die Schriften zu diesem Streit? Sie sagen etwas, das die meisten eher überraschen dürfte. Wobei das, was sie sagen, nicht unumstritten ist. Was wiederum klar ist. Jedenfalls, wenn man sich ein wenig mit Juden und dem Judentum auskennt. Und mit ihrem Faible für intellektuelle Auseinandersetzungen, Diskussionen und Kontroversen.

Doch zurück: An wen denken Sie, wenn Sie von »Abtreibungsgegnern« hören? Den meisten dürften spontan religiöse Artgenossen in den Sinn kommen. Etwa die konservativen Katholiken aus Polen oder evangelikale Christen aus den USA. Und wo die sind, da sind orthodoxe Juden bestimmt auch nicht weit, stimmtʼs?

Größer ist die Überraschung, wenn man sich die Mühe macht, die älteste monotheistische Religion zu befragen. Denn dann wird klar, dass sich das Judentum nicht ohne Weiteres im Lager der Abtreibungsgegner oder der Abtreibungsbefürworter finden lässt. Sondern dass wir es mit einem Balanceakt zwischen den Fronten zu tun haben.

Die Tora erlaubt die Abtreibung nicht direkt

Die Tora etwa erlaubt die Abtreibung zwar nicht direkt. Aber sie verbietet sie auch nicht. Stattdessen gibt es im Buch Exodus klare Hinweise. In Kapitel 21,22 des 2. Buches Mose geht es um zwei Männer, die sich in einem handfesten Streit befinden und dabei eine schwangere Frau verletzen, sodass diese eine Fehlgeburt erleidet. Die Tora führt aus, dass in solch einem Fall lediglich Schadenersatz zu leisten sei, wenn kein weiterer Schaden entstanden ist.

Wenn allerdings ein weiterer Schaden entstanden ist, also etwa die werdende Mutter getötet wurde, so handelt es sich um ein Kapitaldelikt. Und ein solch schweres Verbrechen müsse entsprechend bestraft werden. Die Rabbiner erklären, dass es sich hier also nur dann um eine Tötung handelt, wenn die Schwangere selbst ihr Leben verliert. Der Abgang des Fötus wird dagegen lediglich als Sachschaden begriffen. Das heißt: Wenn der Fötus nicht als vollwertiger Mensch begriffen wird, dann müsste eine Abtreibung in aller Regel erlaubt sein, oder?

Interessanterweise sind es genau diese Verse des Buches Exodus, auf welchen die strenge christliche Auslegung gründet, die Abtreibungen verbietet – die das ungeborene Leben also mit dem Leben nach der Geburt gleichsetzt. Wie kann ein und derselbe Text gegensätzliche Ergebnisse hervorbringen? Ganz einfach: Weil das frühe Christentum einer Fehlübersetzung oder zumindest einer Fehldeutung aufsaß. Rabbiner Jonathan Sacks erklärt dazu, dass in der Septuaginta, also der frühesten Übersetzung der Hebräischen Bibel ins Griechische, ein zentraler Begriff falsch übersetzt wurde. Das Wort Asson. Dieses bedeutet hier so viel wie ein »weitergehender, schwerer Schaden«. In der griechischen Übersetzung hieß es dagegen »Form«. Form? Ja, Form! Und damit wurde der Sinn der Vorschrift vollständig auf den Kopf gestellt.

Das klingt nun kompliziert, ist aber eigentlich ganz einfach. Im Original heißt es: Wenn die Schwangere durch die kämpfenden Männer eine Fehlgeburt erleidet, aber kein weiterer Schaden entsteht, dann gibt es Schadenersatz. Wenn allerdings ein weitergehender, schwerer Schaden entsteht, also etwa die Mutter stirbt, haben wir es mit einem Kapitalverbrechen zu tun. In der griechischen Übersetzung lautet es: Wenn die Schwangere durch die kämpfenden Männer eine Fehlgeburt erleidet, die aber noch keine Form hat, dann gibt es Schadenersatz. Wenn die Fehlgeburt dagegen schon eine Form hat, dann ist es Mord.

Nach frühchristlichen Vorstellungen dauerte es etwa 40 bis 80 Tage, bis der Fötus seine Form erhielt. Und spätestens ab diesem Zeitpunkt wurde eine Abtreibung als Mord begriffen. Dies war die Lehre, wie sie die Kirchenväter Tertullian und Augustin verbreiteten. Und dies wurde zur Basis christlicher Lehre, wie sie auch heute in Teilen noch vertreten wird. Wobei sie in konservativen oder evangelikalen Kreisen noch einmal verschärft wurde.

Doch Katholiken hin, Evangelikale her: Wenn man nun glaubt, dass sich das Judentum strikt an das hebräische Original des Textes angelehnt und die Abtreibung durchgängig erlaubt hätte, dann irrt man. Denn obwohl auch der Talmud an weiteren Stellen bestätigt, dass ein Fötus nicht den gleichen Wert hat wie ein Mensch, heißt das noch lange nicht, dass der Fötus wertlos wäre. Wenn eine Schwangere etwa am Schabbat stirbt, so darf ein Arzt alle Schabbatgesetze brechen, um das Kind zu retten. Denn das ungeborene Leben ist werdendes Leben und damit ebenfalls schützenswert. Irgendwie jedenfalls.

Potenzielles Leben und nicht nichts

Es ist also potenzielles Leben und nicht nichts. Eine grundlose Abtreibung ist deshalb auch nicht ohne Weiteres erlaubt. Zumal der Mensch nach jüdischer Lesart nicht das uneingeschränkte Recht hat, über seinen Körper zu entscheiden. Schließlich ist unser Körper uns nur geliehen worden, solange wir auf Erden verweilen. Und muss deshalb pfleglich behandelt werden.

Ist die Abtreibung im Judentum nun also erlaubt oder verboten? So genau lässt sich das nicht sagen. Fest steht, dass eine Abtreibung ohne jeden Zweifel immer dann erlaubt ist, wenn das Leben oder die Gesundheit der Mutter durch die Schwangerschaft gefährdet sind. Mit anderen Worten: Leben und Gesundheit der Mutter haben immer Vorrang vor dem Leben des ungeborenen Kindes. Und das ändert sich erst mit der Geburt.

Obwohl das Judentum und die Schriften also eine ziemlich liberale Haltung an den Tag legen, die vor allem das Wohl der Mutter im Blick hat, ist es in der Praxis – oh Wunder – nicht ganz so einfach. Denn wann die Gesundheit der Schwangeren wirklich gefährdet ist, wann wir also von einer realen Bedrohung für die werdende Mutter sprechen können, darüber wird kräftig gestritten.

Wobei die Faustregel gilt: Je orthodoxer, desto höher sind die Anforderungen an die Gesundheitsgefährdung der Schwangeren.

Und je liberaler – im religiösen, nicht im politischen Sinne –, desto geringer sind die Anforderungen. Während die einen eine Gesundheitsgefährdung also nur in wirklich schwerwiegenden Fällen anerkennen wollen, sehen die anderen bereits in psychischen und seelischen Belastungen der Mutter einen legitimen Abtreibungsgrund.

Und doch weisen auch die restriktiveren Vertreter beherzt darauf hin, dass ein Abtreibungsverbot der jüdischen Lehre widerspricht. Gerade weil es eine Reihe von Fällen gibt, in denen die Abtreibung erlaubt sein muss. Zum Wohl der Mutter. Und nach sorgfältiger Abwägung im Einzelfall.
Der jüdische Weg ist trotz der heftigen Diskussionen also nuanciert und differenziert. Und manövriert uns damit einigermaßen sicher durch die Extreme.

Der Autor ist Vorsitzender des Landesverbandes der Jüdischen Gemeinden in Hessen.

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27. Kislev 5785 - 28. Dezember 2024